Interpretation erotischer Kunst kann wie die Interpretation überhaupt in Rekurs auf verschiedenes methodisches Inventar operativ vollzogen werden. Der methodische Bezugsrahmen determiniert hierbei die Art der Analyse ebenso wie die im Erwartungsspektrum präfigurierten Resultate und Quasiresultate des Erschließungsprozesses. Wir verstehen Interpretation im Rahmen der Sprechakttheorie als Handlung. Handlungen können strukturell sprachlicher sowie nichtsprachlicher Art sein, genügen aber laut common sense dem Fundamentalschema von Handlung. Zunächst gibt es einen Träger der Handlung, sowie die Handlung selbst, die sich notwendigermaßen vom Handelnden selbst unterscheidet. Die Identität des Handelnden mit dem Träger der Handlung ermöglicht erst die Bestimmung dessen was im Unterschied zum Ausführenden der Handlung als Handlung selbst verstanden werden kann. Weiter ist die Handlung als Handlung in sich je in das gesellschaftliche Gesamtsystem von Handlung eingebunden und unterliegt den gegebenen historisch herausgebildeten Kontexten und Bestimmungen der jeweiligen Handlungsschemata, die bei einer konkreten Handlung aktualisiert werden. Dabei vollzieht sich die Aktualisation von Handlungsschemata innerhalb eines soziologisch relevanten Symbolvorrats, dessen Immanenz im Handlungskontext den Handelnden als Symbol von Handlung in der Weise ausschließt, als dass eine Aufstockung des etwaig vorhandenen Symbolreservoirs die Verfügbarkeit des Individuums - vor allen Dingen in der Interpretation - als Matrix der ausführbaren Handlungen überhaupt erst erzeugt. Und zwar konstitutiv erzeugt.
Die Gleichzeitigkeit der vorhandenen Existenz des interpretativ Agierenden mit dem Prozess der Interpretation selbst sowie der Interpretationssubstanz ist Vorraussetzung einerseits, wie andererseits Interpretation als bestimmter Handlungstyp in ihrem Zeitbezug genetisch begründet liegt. Diese Auflösung in einer Simultanstruktur artikuliert sich im Aspekt des Raumes in der Gefahr, die der Interpretierende stets ausgeliefert ist, nämlich die Gleichzeitigkeit ins Räumliche übergreifen zu lassen, und als Interpretierender zum durch sich selbst Interpretierten deformiert zu werden, das heißt, sich selbst in das Bild zu projizieren, und damit als zeichenhafte Geste über der Zeichenkette des Interpretationsergebnisses als Einlagerung verschmutzend aufzutauchen.
Bei der Interpretation erotischer Kunst, beispielsweise Kunst mit Sexuelles implizierenden Bedeutungsebenen, unterliegt der theoretische, analysierende Zugang einigen hinzukommenden Einschränkungen und Freiheiten. Die psychoanalytische Macht-Architektur des Menschen ist hier der formale Grund für die faktische Unmöglichkeit hier interpretierendenfrei zu interpretieren. Die eigenen Sehnsüchte sind schon immer mit in das Bild gelegt, eine Interpretation erfolgt hier zwangsweise unter dem Edikt eines Sichselbstbegehrens. Um einen wesentliche Differenz zwischen sexuell variablenfreier, sexuell unkonnotierter Kunst und erotischer Kunst zu nennen, geschieht hier die Interpretation gewissermaßen nicht mehr freiwillig. Bei ersterem steht der Interpret nur unter dem Diktat des Bildes selbst, bei letzterem ist er der Diktatur des absolutistisch in Erscheinung tretenden Interpretationsprozess ausgeliefert. So wie sein unbewusstes Trieb- und Wunschpotenzial Herrschaft über das Ich ausübt, so proklamiert die Interpretation den Zustand einer Sklaverei der Interpretation über das interpretierende psychologische Individuum. Das Subjekt begehrt zu interpretieren. Es wird ein Lustopfer der Interpretation. Es begehrt, lustvoll zu interpretieren, zu interpenetrieren, es strebt nach dem befriedigenden Abschluss der Interpretation. Die Konsequenz ist, dass die Interpretation erotischer Kunst im Gegensatz herkömmlicher Interpretation immer ein Ergebnis hat. Sie ist in diesem Sinne schon immer vollständig gewesen.
Die Interpretation erotischer Kunst steht aber auch unter dem Vorzeichen besonderer Freiheiten. Es ist ihr gestattet in besonderer Weise subjektiv zu sein. Das vom Es über den Hergang der Interpretation verhängte Verbot objektiv und ichfrei zu sein, ermöglicht aber auch eine Form der Trotzreaktion hierauf, nämlich ungehemmt subjektiv und willkürlich sein zu können und so fast jedes beliebige Resultat zu legitimieren. Bei erotischer Kunst kann das interpretierende Subjekt ganz nach gusto den jeweiligen interpretatorischen Fetisch vulgär, ordinär und leidenschaftlich zur freien Entfaltung zu bringen. Dass die Interpretation von erotischer Fotografie noch einmal um einige Winkelminuten geiler ist als diejenige restlicher erotischer Kunst, liegt an der größeren Detailtreue und Auflösung gegenüber Gemälden. Mit der Konkretheit von Photografie korrespondiert die genuin konkrete Natur von Sexualität – selbst wenn sie ein imaginatives Virtualprodukt ist, so ist sie doch immer konkret. Freuen wir uns auf das Beispiel.
Eine wissenschaftlich wertvolle Interpretation muss ihren Ausgangspunkt immer bei einer exakten Beschreibung des zu Interpretierenden finden. Was ist also auf der Fotografie zu sehen und auf welche Art und Weise ist es dargestellt.
Wir sehen eine geriffelte Metalloberfläche. Die Oberfläche einer Spüle, links ist das Spülbecken zu sehen. Hier und da ein Tropfen Wasser. Mannigfacher Glanz. Wir sehen weiterhin eine braune Schale, wobei uns der Künstler hinsichtlich der Bestimmung, aus welchem Holz sie gefertigt ist, im Dunklen lässt. Er betrügt uns um die Wahrheit. In der braunen Schüssel befindet sich eine spiegelnde Flüssigkeit, möglicherweise Wasser. Auch das wissen wir nicht. Was wissen wir überhaupt? Aus dem Wasser streckt sich eine Karotte hervor, etwa die Hälfte des Wasser wird von deren Spiegelung beansprucht. Neben der Karotte sind zwei Weinbeerentrauben in die Flüssigkeit gelegt. Der Weinberg, auf dem diese wuchsen, ist an den Trauben jeweils als sich über den Schüsselrand streckende Äste noch behutsam angedeutet.
Worum handelt sich. Ist etwas in dem Bild zu erkennen? Ist etwas Besonderes dargestellt? Wahrscheinlich nicht. Eine Art Obstkorb ist zu sehen, ein Stilleben. In modernen Edelstahl-Ambiente. Oder ist da etwa doch etwas? Nun. Die Parallelen zum männlichen Geschlechtsteil sind äußerst zart gehalten. Wir denken aber nicht, dass wir uns zu weit über den Tellerrand lehnen, wenn wir darin die Allegorie auf das männliche Geschlecht dargestellt zu sehen glauben. Der Phallus selbst wird von der Karotte repräsentiert, die Weintrauben bilden die Testikel. Links ist das weibliche Becken durch das Spülbecken repräsentiert. Es fragt sich, ob es sich um eine Komposition handelt oder ob das Bild zufällig entstanden ist. Da die Ähnlichkeiten zum männlichen Geschlechtsteil eher zufällig als beabsichtigt erscheinen, befürworten wir letzteres. Es ist wohl kaum keine absichtliche Komposition.
Optisch ist das Bild äußerst effektvoll. Es scheint die Aufnahme einer in sich ruhenden Bewegung zu sein. Der Witz besteht darin, dass die Linien eine optische Täuschung herufrufen. In einer Art Op-Art Technik scheint sich das Bild ständig zu bewegen. Es ist ein Hin und Her zu beobachten. Die Linien der Spüle flimmern. Das Auge wird angestrengt. Mit dem Hin und Her des Flimmerns ist an den Archetyp der Kopulationsgeste erinnert: das Hin und Her. Darüber hinaus lässt sich das Ganze auch als Wellenbewegung lesen. Während das Wasser in der Holzschale selbst still liegt, überschlägt sich außerhalb des "Holzbootes" beziehungsweise der braunen Holzschaleninsel Wellenkamm um Wellenkamm. Das Meer tobt. Das männliche Geschlecht liegt jedoch still. Die gerillte Oberfläche des Metalls ist ein Negativ zur Performation des Greifens. Sie versinnbildlicht auf einsichtige Weise die Körperberührung. Stille und Bewegung bilden einen für die Wirkung beim Rezipienten entscheidenden Kontrast. Es entsteht eine Spannung von hochkantig knistender, pulsierender Erotik.
Der Künstler hat aber nicht nur auf diese Art mit Kontrasten gearbeitet, mit der Gegenüberstellung von männlich und weiblich. Von den vielen vorhandenen Intertextualitäten, die sich in diesem Bild finden, soll noch eine Erwähnung finden.
Wenn man das Bild als Landkarte liest, dann zeigt die Karotte nach Osten. Mittelalterliche Landkarten waren geostet, das heißt Osten war oben auf der Karte. Die Geburtsstätte Jesu war eben im Osten, und dieser das Zentrum des christlichen Glaubens, der auf mittelalterlichen Karten also oben, in Richtung Himmel sozusagen verortet war. Auf einer mittelalterlichen Landkarte würde die Karotte also nach oben zeigen, man hätte das Symbol eines erigierten Phallus vor sich. Hier ist dem nicht so. Was heißt das nun für die Vorstellung von Christentum, die auf diesem Bild entwickelt wird. Spielt es auf die biblische Weisung „Seid fruchtbar und vermehret euch“ an, mit dem Hinweis, dass in neueren heidnischen Tagen biblische Gebote in gefährlicher Weise nicht mehr befolgt werden, und dass sich das Meeresbecken in der linken Bildhälfte bald mit Sintflutwasser füllen wird, das weibliche Becken sich also mit Fruchtwasser, auf dem das Holzboot mit der Karotte als Fruchtbarkeitssymbol getragen werden wird. Einem ungewissen Schicksal entgegen? Eine Versinnbildlichung des heiligen Sakraments der Ehe also? Die Karotte als Priesterstab, an dessen Wurzel, sich zwei Rosenkranzketten zusammengerollt haben? Der Sieg des weiblichen Geschlechts? Die Rillen des Spülbeckens als männliche Rippen, beflutet von weiblichem Fruchtwasser? Die Trennung des männlichen Geschlechtsorgans also vom Restkörper durch den Sintflutregen als Symbol des Zölibats des Priesteramts? Spielt Religion hier vielleicht doch keine Rolle?
Diese Fragen können hier genau so wenig beantwortet werden, wie ebenso nicht aufgezeigt werden kann, wie vielschichtig dieses Bild ist. Wieso zum Beispiel wurde hier eine Karotte verwendet? Weil die Karotte eben die Leibspeise des Hasen ist, von dem wir wissen, was diesem nachgesagt wird? In Anspielung auf Künstler, die Zarenkronen in Hasenform gießen?
Ein einziger Hinweis soll noch genügen. Wieviele Rillen können wir auf der Spüle sehen. Wieviele Erhebungen. Wenn man die untere linke Ecke noch als angedeutete Rille sehen will, dann zählt man 23 Stück. Zählen wir sie nicht mit, dann ist man bei 22. Wieviele Erhebungen sehen wir aber unverhüllt, also weder nur ausschnitthaft gezeigt noch durch die Schale verdeckt? Richtig. Es sind sechs. Es sind die überhalb der Schüssel, ausgenommen der obersten. Schreibt man jetzt sechs ein wenig anders erhält man: Sex. Eine relativ dünne Feststellung, dennoch: Ist es nicht vollmundig unheimlich, aus wie vielen Dimensionen es aus diesem Bild der pure Sex auf den Betrachter regnet?
Kommen wir abschließend noch auf einen oben in den einleitenden Worten fomulierten Umstand. Dort sagten wir, dass bei erotischer Kunst, die Interpretation die eigentlich naturgemäß dem Bild selbst zugefallene Rolle der Diktatur über das interpretierende Subjekt übernimmt. Der entscheidene Punkt, und darüber hinaus der tiefe Wert des vorgestellten Werkes, liegt darin, dass wir eigentlich einem naturlyrischen Stilleben ohne geschlechtliche Konnotation als Betrachter gegenübergestellt werden. Der Interpretierende oszilliert bei der Betrachtung unter sich wechselseitig ablösenden Diktaturen. Einmal wird er vom Bild selbst beherrscht, es zieht ihn auf erotische Weise an, während er im nächsten Moment von der Interpretation beherrscht und von ihr durchgeistigt wird. Damit oszilliert er zwar auch zwischen Freiwilligkeit und Zwang, vielmehr aber erlangen das Bild - das in mehrere Einzelerregungen zu zerfallen scheint - gleichsam unter diesem Wechselstrom eine unglaubliche Intensität. Diese alternierende Situation wird im Bild von der Rillenstruktur als Bildelementes selbst integriert, und von der Rillenstruktur der Spüle aufgegriffen. Die Bilder sind in ihrer Dimensionalität von gerade zu brutaler und ichvernichtender Kraft. Die qualitative psychoempirische Forschung konnte in einer Längsstudie mehrfach geistige Orgasmen bei den Rezipienten nachweisen. Durch die ultraschnelle Zirkulation beider Diktaturebenen und Machtformationen wird der Betrachter paralysiert und von sich selbst entfernt im ichlosen Rauschen holistischer Verzückung in die Aufblühung gebracht. Welche Prozesse hier stattfinden, kann genauer auf dem hier nur äußerst beschränkten Platz nicht ausgeführt werden. Resultate liegen eh noch nich vor, ey. Die gegenwärtige Forschung versucht aber derzeit in einem verzweifelten Kampf gegen die menschlichen Erkenntnisgrenzen genaueres zu ermitteln.
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2 Kommentare:
ich finds gut...
'Kabinett Kalium' ist unter allen Blogs, die mir bekannt sind, der einzige, der nicht einschläfernd wirkt. Bei den anderen wird man geradezu gezwungen, die Zeilen zu überspringen. Du aber grunzt anders, so geheimnisvoll. Dein Blog marschiert rückwärts. Er irritiert. Mach's gut, du Taktloser. Daniel
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