Ich sitze mit halb geöffneten Lippen im Zimmer meines Bruders, an denen die abblätternden Hautreste hängen, auf dem klappernden Bürostuhl – vor zwanzig Jahren, von jemandem montiert, der genau so gut ich gewesen sein könnte, theoretisch meine ich, vielleicht nicht so gut im Kopfrechnen wie ich. Meine Augenlider blinzeln scheu zurück, wenn sie sich dann doch geschlossen haben unabsichtlich. Wenn ich nichts sehe, hat mein Gehirn mehr Spaß mit sich selbst. Manchmal benetzt die Zunge, auf der der Biergeschmack ruht, die Lippen mit Speichel. Ich habe Adrenalinstromschläge. Ich fühle mich frei. Ich nicke mit dem Kopf und die Gegenbewegungen kommen von den unter der Sitzfläche ein- und ausknickenden Kniee. Ich fühle mich als würde ich ein Cabrio durch Serpentinen steuern. Die Anzeige in miles per hour. Als würde ich vom Golfspielen kommen. Neben mir auf der Ledersitz eine hochgewachsene Blondine mit riesigen Brüsten. Dann aber juckt es mich in den Achseln, wo meine Achselhaare verklebt sind. Ich verdränge es wie meine Zahnlücke gerade aussieht, wenn ich den Froschmund mache. Ich habe das Gefühl ich bin im Fitnessstudio, würde gerade vom Gerät aufgestanden sein, achtzig Kilo mindestens oder auf jeden Fall eine ganze Menge Gewicht und ich spüre selbstbewusst wie die begehrenden Blicke der Frauen auf meinem schweißperlenglänzenden Körper ruhen. Ich schwinge das Handtuch um den Nacken und werde mir jetzt einen Eiweißdrink gönnen. Vielleicht sehen wir uns ja nachher in der Sauna.
Nein, sicherlich nicht, denn ich sitze immer noch auf dem Bürostuhl. Und unter meinen rhythmischen Bewegungen klappert das alte Gestühl. Ich höre Musik und gebe meinem intensivem Empfinden mit gefühlsstarken Tanzbewegungen Ausdruck. Ich lecke mir über die Lippen. Ich fühle mich als würde ich vor den Cops flüchten, in meinem Rucksack klappern blechern die Spraydosen, wieder mal eiskalt 'Nazis raus' auf einen Zug gesprüht, wieder mal paar bombings angebracht, ich bin nur halb so schlecht wie die Welt, über mir strahlt der Mond und auch über der kalten Stadt, und ich bleibe mit meinem Rucksack in einem Zaun hängen, mindestens drei Meter hoch, dann lasse ich das Teil zurück, ich schwinge mich ganz knapp nur drüber, machs gut Ärmel meiner Lieblingsjacke, Märtyrerärmel du, abgerissen, als Fahne der Freiheit am Maschendraht. Ich kann auch ohne dich Spinnennetze verschießen. Der Rucksack ist auch weg, dann kaufe ich mir halt neue Büchsen, neue caps, ich bin jedenfalls erfolgreich geflohen. Mein Lachen schallt durch die Nacht. Die Bullen blicken beömmelt drein. Ich schreie ihnen hinter her: Ihr Schweine, ich bleib mir immer treu! Für ewig! Hmm, auf ewig, flüstere ich, oder doch für ewig? Ich öffne die Augen. Diese Musik, dieses Feeling. Jugendlichkeit. Das Album von Avril Lavigne ist eigentlich nicht für mich bestimmt, denke ich. Ich sollte mich was schämen. Wenn sie mich sehen würde, sie würde mich belächeln. Ich schäme mich vor ihr.
Ich spaste ab. Aber muss der Stuhl so laut sein. Ich bin wieder drin. Ich fuchtele mit den Armen in der Luft. Lasst mich durch. Musik kann mich richtig befreien, habe ich mal einer in einer Disco erzählt, bevor ich ihr auf das T-Shirt kotzte. Wieder abspasten. Ihr sollt mich durchlassen, ich mache das schon. Ich versuche mich durch eine Menschenmasse von Schaulustigen zu drängen, ich sehe die Flammen aus dem Haus züngeln, das Blaulicht wirft Schatten an die Häuserwand. Als ich da bin, höre ich mich nach Hilfe rufen. Ich sehe mich am Fenster. Ich klettere die Feuerwehrleiter hinauf, werde mich retten. Aber genau als ich mich erfassen will, zerplatze ich, die Puppe im brennenden Fenster, wie eine Seifenblase. Die Menschenmenge verlacht mich. Das Blaulicht wird plötzlich bunt und die Flammen des brennenden Hauses verwandeln sich in Lametta. Ich wollte mich doch nur retten. So ein Labyrinth das alles. Verdammtes Labyrinth. Ich habe nicht nur Alpträume. Auch Alpfantasien. Der Stuhl ist zu laut. Ich drehe die Musik leiser, dann wieder lauter, wieder leiser. Meine Mutter schläft eine Etage weiter unten. Und wir bewohnen doch ein Holzhaus. Die Schönheit ihrer Stimme rauscht durch mich durch. Nein, nicht meiner Mutter. Die schläft doch schon. Der Dreck unter meinen Fußnägeln bedeckt den Saturn. Ich bin ein Idiot und ich hasse mich. Bald bin ich dreißig. Und meine Bierflasche, die vor mir steht, ist fast leer. Sie ist fast leer! Fast leer, sie ist fast leer. Was soll ich in den Jahren bis zu meinem Geburtstag nur trinken. Ich muss doch auf mich und meine beschissene Welt anstoßen können, wenn der Wecker um punkt Zwölf klingelt. Weißt du Junge, du trinkst doch total gerne Bier, flüstere ich mir jetzt zu, und streichele meinen Bizeps, verarsche mich selbst. Ich mache mich gerne über mich lustig. Na das gefällt dir mein Junge, und stell dir erst mal vor, du wärst jetzt im Fitnessstudio. Du wärst der Unglücklichste von allen.
Ich will ersticken. Oder Nasenbluten haben. Letzte Woche habe ich etwas gemacht... ich glaube, es war ein Anzeichen dafür, dass es mir mittlerweile wirklich schlecht geht. Ich habe mein ganzes Zimmer tapeziert mit Zetteln, auf die ich so schnell wie möglich gekritzelt hatte: wsgk3#asjj12. Nein das nicht, aber ich musste kurz zucken, pardon tanzen. Ich will Nasenbluten haben. Das habe ich tapeziert. An jede Wand. Mein Vater kam am nächsten Tag ins Zimmer, was schon zehn Uhr, wir wollten doch gemeinsam in den Getränkemarkt fahren und danach vielleicht mal in der Werkstatt vorbeifahren. Er hat den Verdacht, dass an der Hinterachse ein Radlager defekt ist. Das Auto ist total laut. Komisch wie der Bürostuhl. Komm, vergiss es. Es gibt keine Zusammenhänge auf der Welt. Was habe ich damit zu tun, ich habe Informatik studiert. Ich meine mit dem Radkasten. Er hat mir eine gescheuert, als er die Zettel gesehen hat. Aua! Na, dann fahr doch alleine zum Getränkemarkt du Charakterschwein, du Grobian, habe ich ihn angebrüllt. Nachher beim Abendessen habe ich ihn gar nicht anschauen können, so geschämt habe ich mich. Es tat mir so leid, und meine Mutter hatte Harzer Rolle in Sahne und Essig und Zwiebel eingelegt und mein Bruder hat erzählt, dass er jetzt nicht nur die B-Jugend sondern auch die A-Jugend trainiert, und dass in diesem Jahr drei Nachwuchsspieler aus Sommerau in die Auswahlmannschaft Unterfranken kommen. Aber ich unterbreche ihn. Jetzt halt doch mal den Schnabel, Matthias, Vater, es tut mir leid, ich wollte dir heute morgen keine scheuern. Aber ich will, dass du meine Gefühle respektierst. Als mir mein Bruder dann ein eingelegtes Käsestück ins Gesicht gepresst hat, die Soße lief mir bis in den Kragen, das war unangenehm!, bin ich weinend in den Garten gerannt. Jetzt komm doch zurück. Sei nicht eingeschnappt. Leckt mich, ihr herzlosen, ihr, ihr...! Nicht so, Tobias, nicht in dem Ton, ja? An dem Abend habe ich bis in den Morgen Online-Schach gespielt. Jetzt bin im Blitz endlich mal wieder über einem rating von 1650. Eigentlich kann ich das doch besser.
Mein Leben ist schlimm. Aber das ist mir jetzt alles egal. Jetzt ist mir gerade bisschen Spucke auf den Teppich getropft. Yeah, yeah, yeah. Das kann ich mitsingen. Ich will jetzt wissen, was dass für eine Welt ist, bevor ich aufhöre, mich vor mir selbst zu blamieren. Ich habe genauso viel Energie wie Avril! Wie kriege ich die da nur raus? Wie kriege ich die nur, ach, das habe ich doch schon gesagt. Ich bilde mit beiden Händen eine Faust und strecke die Arme aus und gehe mit der Musik. Ich kann den Text nicht. Ich finde, dass trifft auf alles zu, was ich bin und mache: Ich kann den Text nicht. Wie sagt man so buper: ganz im übertragenen Sinne. Ich lebe, laufe durch die Straßen, flüchte vor der Polizei, gehe auf die Toilette, springe über den Zaun und kann den Text nicht, ist nur in der Fantasie, aber egal, im Fitnessstudio an der Theke, was willste denn für einen Geschmack, Erdbeere, Schoko? Kirsche habe ich heute morgen neu reingekriegt. So durchtrainiert wie der wäre ich gerne. Stimmt nicht, ich finde das so übertrieben! Igitt, der isst 400g Hühnchenbrust pur. Sogar kalt! Was soll ich den jetzt für einen Geschmack wählen. Ist mir doch egal. Sag halt was, Mensch. Aber ich kann den Text nicht. Ich will ihn nicht können. Das ist der Punkt.
Ich bin jetzt aber müde. Vorhin habe ich mir nämlich noch einen Boxbeutel, so nennt man eine bestimmte Flaschenform fränkischer Weinmacher, Jahrgang 2007, hoffentlich schimpft meine Mutter nicht mit mir, so teuer kann der ja wohl nicht gewesen sein, hoch geholt, aus dem Keller, und zum Glück ist mein Bruder gerade über Wochenende bei seiner Freundin. Mein Zimmer ist genau neben Mamas. Das erste, was ich morgen mache, ist meine Mutter auf Arbeit anrufen, und sagen, dass ich einen neuen kaufen werde. Ich habe noch 6 Euro klein, weil die Busfahrt nach Hösbach heute nur 4,15 gekostet hat. Ich meine, oder habt ihr den auf eurem Urlaub im Schwarzwald gekauft? Ich bin jetzt müde davon geworden. Und ich kann meine idiotischen Illusionen nicht mehr aufrecht erhalten. Avril nervt mich langsam. Habe ich dazu das Recht? Aber sie nervt mich nicht halb so sehr wie ich mich selbst. Ach, du nervst mich gar nicht. Verzeih mir, Avril.
Liebes Tagebuch, schlaf gut, morgen haben wir einen langen Tag vor uns. Hoffentlich spiele ich nicht wieder den ganzen Tag Schach. Online-Schach ist für mich mein persönliches Fernsehen. Fernsehen ertrage ich gar nicht. Ich bekomme Durchfall davon oder naja, es drückt auf alle Fälle ziemlich. Aber Schluss jetzt. Huch, es ist schon fast halb zwei!
Ich habe einfach keine Lust mehr mitzumachen. Ich denke ich wäre gerne obdachlos und alleine. Es reicht, wenn ich in meiner Fantasie ein Idiot bin. Morgen werde ich die Zettel abhängen.
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4 Kommentare:
Sie ist es nicht wert. Jeder, der mit ihr zu tun hatte, weiß das früher oder später. Sie ist es nicht wert.
Ich würde doch nur mal mit ihr reden wollen, weißt du? Avril wüßte genau, was ich tun muss, um glücklich zu werden.
Kokolores. Das ist doch genau ihr Ansatz: Mach dich rar, sei ein Star, verletze, zieh dich zurück - mehr Zauber gibt es nicht. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe.
Verletzen? Avril beschützt mich! Ich lass' sie mir nicht von dir wegnehmen.
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