Zeitschrift für Sprungkraft und Leuchtstoff

Unauthentisches Composing...

ist gar kein Composing, sondern Posing?
Person A sitzt mit geschlossenen Augen auf einem Bürostuhl vor ihrem Rechner. Person A hört Musik. Sie zuckt, sehr schnell, aber rhythmisch. Der Betrachter mag wohl nicht auf Anhieb feststellen, dass hier eine Ordnung vorliegt, denn es ist etwas Komplexes und Akzentuiertes, was sich Person A verabreicht. Fernerhin improvisiert sie darüber: Und so ergibt sich von außen betrachtet das Bild eines ausgewachsenen Tremors. Was auch immer es ist, was da gehört wird: Es sich nicht das Frühstücksradio von Hitradio FFH, das ist klar. Das Mikrofon krabbelt am Hinterkopf entlang, denn der Kopfhörer sitzt verkehrt herum auf ihrem Haupt. Sie hört nämlich mit einem Headset Musik.

Sie hat es mit ihrer Paranoia vor der Gesellschaft so weit gebracht, sich zu schämen vor anderen Leuten mit solchen Dingen. Bei so eher ausgelassenen Sachen und so. Person A zuckt mit den Augenlidern – sie ist nämlich Teil des erlesenen Kreises von Personen, die auch mit diesem kleinen Körperteil tanzen können. Jetzt, wo sie sich auf ihrem Bürostuhl befindet, sind die Augenlider dann und wann ganz still – die Bewegung setzt in den Momenten aus, in denen sie glaubt nicht authentisch zu sein. Wenig später lässt sich Person A von einem solchen Einwand nicht mehr darin stören, auch gesamtkörperlich etwas inniger zu den Ausdrucksmitteln zu greifen, denn sie glaubt seit Jahren nicht mehr an Authentizität. Sie hatte nur ihren fehlenden Glauben diesbezüglich kurz vergessen.

Das Konzept Authentizität ist auch nicht angemessener und besser zu rechtfertigen als Ausländerhass. Man sollte sich davon im Handumdrehen etabliert haben. Übrigens: Niemand weiß eigentlich wie man eine Hand umdreht. Aber in einem Punkt herrscht dessen ungeachtet Konsens: Es geht ziemlich leicht. Und da Person A das Gefühl hat, nochmals ganz spontan einen semiprofessionellen Grund gegen die Plausibilität des Begriffs Authentizität entwickeln zu müssen, sagt sie sich: In dem Augenblick, in dem ich mir sage, sei einfach du selbst, bin ich nicht einfach ich selbst. Für beides auf einmal ist nicht Zeit. Person A hat keine große Lust das irgendwie theoretisch auszudehnen. Sie denkt sich aber noch kurz, authentisch soll man ja sein, wenn man man selbst ist. Und das geht doch davon aus, dass es einen Unterschied zwischen ich und ich selbst gibt. Jetzt übertreibt Person A: Richtig, das macht keinen Sinn und ist – wie etwa Religion oder der Anspruch ‚sozial’ zu sein – faustdick sonnenklar etwas, was die Mächtigen unseres Landes uns in den Kopf gesetzt haben, um uns zu regieren, damit wir gar nicht mehr in Zweifel ziehen, dass man sich selbst finden muss, dass man irgendwann aber bitte schon einmal wissen sollte, wer man ist und was man denn möchte in seinem Leben.

In solchen Momenten hat Person auch beim Tanzsport gelegentlich die Augen offen und blickt kurz auf den Bildschirm. Sollte man ein minder auffälliges Lied wählen, um …, na eben einfach so? Immerhin könnte vielleicht Person B oder Person C das Zimmer betreten. Man kennt sich schließlich auch noch nicht allzu lange, das heißt die Beziehungen hatten noch nicht die große Zeit sich zu festigen. Person A hält sich nicht für extravagant, sie will aber auch nicht verstören.
Sei es wie es ist: Sie geht wieder mit der Musik. Nach den kurzen Irritationen kann Person A wieder genießen. Was auch immer das heißen soll, wie sie sich fragt. Genuss scheint jedenfalls nichts mit der Lage der arbeitenden Klasse in England zu tun zu haben oder mit der kritischen Kritik der Kritik. Vielleicht ist Genuss ja auch nur ein anderes Wort für enormous chill. Vielleicht ist es ein Zeichen, dass die arbeitende Klasse hier ins Wort fällt: Die Authentizitätsdebatte hat Person A schon länger satt, sie hält sie für unproduktiv und eigentlich abgehakt. Kurz denkt Person A noch weiter. Es gibt doch den weit verbreiteten, aber unausgesprochenen Gedanken, dass man authentisches Verhalten, und insbesondere beim Tanzen (und um den Bezug zur Überschrift herzustellen: bei Blogeinträgen übrigens auch), daran erkennt, dass es technisch gut ist, etwa sehr gut auf den Takt und anderweitige musikalische Einheiten abgestimmt, oder sonst erstaunlich gut gemacht ist. In diesem Sinne ist Komplexität authentisch. Oder mal minus eins: Es gibt den Gedanken, gerade bei der Beobachtung eines tanzenden Menschen, dass genau dann wenn die Darbietung brüllend schlecht ist, Authentizität herrscht. Unverfälscht. Echt. Virtuosität ist immer technisch, immer künstlich. Vielleicht, und das ist das letzte was sie denkt, bevor sie unterbrochen wird, ist es genau das, dass man weder dem einen noch dem anderen Echtheit bescheinigen kann, keine der beiden Positionen toll ist, was zur Widerlegung des ganzen Konzeptes führt. Und das denkt Person eigentlich schon lange: Man ist immer man selbst, immer. Auch beim schrecklichsten Posing, Lügen oder Schleimen. Man kann sich nicht verstellen. Oder jemandem was vorgaukeln. Die ganze herkömmliche Auffassung zur Schauspielerei ist in diesem Sinne schwach. Person A denkt sich, der folgende Satz macht doch gar keinen Sinn: „Mach was du wirklich willst.“

Und wenn man schon vom Teufel spricht: Person B kommt ins Zimmer. Sie starrt Person A so lange an, bis Person A den Kopfhörer absetzt. Jetzt hat Person B endlich Zeit den Kopf zu schütteln und sich wieder umzudrehen. Solange du nicht reagierst, gefalle ich mir darin, dich strafend anzublicken. Will Person B etwa schon bereits wieder erneut sofort gehen? Dieser kurze demonstrativ mahnende ‚Befehlsstand’ reicht ihr etwa bereits wieder sofort aus? Person A muss an die Niederschlagung des Aufstandes auf dem Tian’anmen-Platz denken. Person B wendet sich doch noch um und spricht. „Hör mal zu, ja? Wir sind in dieser Wohngemeinschaft anständige Leute, ja? Sich so gehen lassen. Wenn du dich wenigstens bewegen könntest. Widerst mich an du. Was machen die Leute eigentlich. Also Leute, so was wie du halt. Sie brauchen immer stärkere Drogen, immer abgefahrenere Musik. Wenn ich dich nochmals erwische, dann mach ich dir dein kleines Schweineleben zur Hölle. Dann überfahre ich dich jeden Tag mit meinem Auto.“

Notabene: Es handelt sich um eine 8-er Wohnung. Landkommune, Altersheim, Bundeswehrbarracke. Ist egal. Der Vollständigkeit willen hätte man also erwähnen müssen, dass nicht nur Person B oder Person C ins Zimmer hätten kommen können, sondern auch Person D, Person E, Person F, Person G, Person H. Aus Rücksicht auf das Textbild wurde dies unterlassen sowie es aus Wahrheitspflicht als eben diese Bemerkung noch ergänzt wurde. Danke.

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