Zeitschrift für Sprungkraft und Leuchtstoff

R7c1 – der einzige Coverkandidat

Es ist eigentlich unwichtig und es weiß jeder: Wenn man sich in der heutigen Zeit, auf den Weg macht, vielleicht im Internet oder in einem Buch, etwas zu erfahren, – man will sich zum Beispiel über Lösungsstrategien von Sudokus informieren – dann befindet man sich plötzlich, und sicherlich plötzlicher als man dachte, in einem sogenannten Fachgebiet. Man schüttelt den Kopf und stellt fest, dass die empirische Welt auch an dieser Stelle noch unglaublich viel größer wird. Dass Introspektion jetzt endgültig langweilig geworden ist. Die These ist, dass sich Wissen viral und aggressiv ausdehnt, und im verfügbaren kosmischen Gesamtraum G für das Gefühl immer weniger Spielplatz bleibt. Wie traurig. Die andere These ist, die Wissensmenge war bereits vor Jahrhunderten unüberschaubar. Nur weil uns jetzt mit der historisch nie da gewesenen Verfügbarkeit der Eindruck kommt, dass das Erfahrbare unendlich ist (obwohl es gar nicht unendlich sein dürfte, denn war das nicht eine Eigenschaft, die dem reinen über die Reflexion reflektierenden Geist vorbehalten war, beziehungsweise dem Hass?), heißt das nicht, dass wir nicht alleine dastünden mit diesem Eindruck.

Fachgebiete gab es und gibt es überall: Podologie, Patrologie, Pomologie, Prosopografie, und zu guter Letzt good old Pulmologie. Mich würde interessieren was der Siebzehnjährige zu dieser Kollektion sagt, der im Berufsvorbereitungsjahr steckt, und dessen Vater will, dass er sich auf die Stelle zum Rohrleitungsbauer bei der Gemeinde bewirbt. Egal zum Ersten. Solche Dinge, die gerne und fälschlicherweise mal als gesellschaftliche ‚Widersprüche’ bezeichnet werden sind ja gang und gäbe. Zum Beispiel: Wieviele abgemagerte Hirseenterhelferinnen mit Skorbut und Kolik’ im Benin denken gerade darüber nach, wie man am besten zu breakcore oder dubtechno tanzt? Egal zum Zweiten. Warum sollten das übrigens Widersprüche sein. Es sind maximal Gegensätze. Aber ich kenne mich nicht aus. Bleibe ich also dabei und sage Widersprüche.
Aber sind sie denn wirklich gesellschaftliche? Was passiert denn, wenn ich gerade vom junior consultant zum senior consultant befördert wurde und meine erste Woche im neuen Job mache, und mich, sagen wir, ins Zeug legen muss, während meiner Frau gerade der Darmkrebs diagnostiziert wird? Das heißt, ich habe noch weitere drei, vier Arbeitstage vor mir, bei denen ich mich mit allem Hirn um Zeug (beispielsweise die Verwendung von high capacity Kondensatoren bei der elektronischen Motorsteuerung, bei französischen Autobauern: Bis Samstag 22 Uhr Präsentation) kümmern muss, das mich einfach nicht interessiert, weil ich meine Frau liebe. Ist das nicht mal Entfremdung? Ein krasses Beispiel, aber weniger krass schlicht und einfach alltäglich. Eine die mit Gesellschaft nichts zu tun hat. Und die Entfremdung, über die Marx so gerne spricht. Wir seien von den Produkten und so weiter... darf ich den Gedanken einwerfen, dass Millionen von Menschen froh sind über diese Form der Entfremdung. Es ist ihnen recht, wenn der Kram nach acht Stunden aus ist, und damit nichts weiter zu schaffen ist an diesem Tag. Die wollen gar nichts mit ihrer Arbeit zu tun haben, sondern den Kopf frei haben. Auch wie dem sei. Sind die Widersprüche der Welt, liebe Leute von der Linkspartei (falls ihr denn so denkt, ich hatte einfach Lust euch anzureden) wirklich gesellschaftlich verankert? Oder besser: Sind die gesellschaftlich verankerten geradezu gleichgültig im Vergleich zu denen des Ereignisses? Aber egal zum Dritten und Letzten.
Ein kleines Zitat:

„Der X-Wing ist degeneriert und wird daher als Sashimi bezeichnet. Die Logik ist gleich wie bei einem normalen Finned X-Wing: r7c1 ist der einzige Coverkandidat, der beide Fins sieht, er kann daher gelöscht werden.“

Das kommt davon, wenn man Sudokus löst, aber bei einem gewissen Schwierigkeitsgrad nicht weiter kommt, und sich dann mal systematisch damit beschäftigen will und ins Internet hinein geht, um sich zu informieren. Geradezu irrelevant im Vergleich zu den Keplerschen oder Gossenschen Gesetzen, nicht wahr? Das geht einem ja überall so, egal ob man gerne Wein oder Whiskey trinkt und nachforscht, oder ein Golfschlägerset braucht und Kundenbewertungen durchforstet. Niemals war die Welt so konkret wie heute. Was würden Platon oder Schopenhauer sagen, für die es noch etwas Konkretes und für die alltägliche Lebenswelt Bedeutsames war zu sagen, Vorstellungen seien stets endlich oder auch nicht, wobei alles Reale endlich ist, also alles real ist, und keine Transzendenz da (Vorsicht bei der Abfahrt an den Türen: Willkürliches Beispiel). Oder der Mensch, der in zwei Wochen in Nigeria an einer Goldstaubvergiftung sterben wird? Was sagt der eigentlich so zu meiner neuen Katze?
"Die einen von uns werden eben als r7c1 geboren, und können gelöscht werden, die anderen gar nicht, und wieder andere fahren mit dem Maybach auf der Landstrasse nach Münster." Im Juli 2009 (wenn ich mich nicht irre) übrigens konnte man in den Nachrichten erfahren, dass es jetzt endlich eine Milliarde Hungernde gibt auf der Welt. Endlich. An diesem Abend habe ich beim Dönerladen um die Ecke mal ausnahmsweise mit Schafskäse gegessen (es war übrigens ein Linkshänder-Döner, ich komm’ damit besser zurecht).

Aha, aha. Was bedeutet das jetzt. Ist das jetzt alles Sozialdeterminismus? Sind die beiden folgenden Aussagen also gleichwertig:

1) Die eine stirbt mit 38 an Zungenkrebs, die andere mit 19 an Liebeskummer.

2) Der eine wird Rohrleitungsbauer, und wird sein Leben lang spucken auf das, was der Akademiker Arbeit (er weiß auch nicht, was der mit Entfremdung meint) nennt, der andere betreibt (minder-)qualitative Sozialforschung und verdient mit seinen unter Zwang geschriebenen Abhandlungen das Achtfache.

Sind das zwei verschiedene Formen, Kontexte von Schicksal und nichts weiter? Heißt das also, dass die Politik jetzt gar nicht mehr versuchen soll, Verhältnisse zu verbessern, für die Menschen, um des Menschen wegen auszubalancieren, sondern einfach alles so beibehalten sollte? Wo sie doch so mächtig, alles zu verändern, mit einer einzigen kleinen Handbewegung? Ist. Aber natürlich, Mama. Drauf’ gekackt, sach’ ich jetzt mal. Ich werde es nämlich auch an dieser Stelle pflichtunterbewusst versäumen, einen Zusammenhang herzustellen oder eine konsistente Aussage. Das ist auch gar nicht möglich, bei diesem Wust, in den wir hier hineingeraten sind. Ich halte es mit dem avantgardistischen Theater: Meine Bühnenstücke werden bei halbhoher Gardine vorgetragen, so dass man nur die Beine sieht, oder die Toten, die liegen. Manchmal ragt ein Lindenstock mit hauchzarten Trieben aus dem Orchestergraben und duftet nach dem Süden.

Ich muss doch im Abschluss nochmals unterstreichen, dass die in diesem Text unternommene Parallelisierung von ‚sozialem’ und ‚weltischem’ Schicksal strenggenommen natürlich ein recht großer Kram ist. Aber vielleicht ist das Ziel meiner hier durchgeführten Verwirrung etwas sichtbar. Oder vielleicht riecht auch jemand was? Übrigens hoffe ich nicht verschreckt zu haben, wie es Leute tun, die sagen: „Es sterben hier Menschen an Hodenkrebs und du frisst Crêpe Suzette!“ und glauben damit die Härte der Wirklichkeit begriffen zu haben (wenn es eine solche Härte denn gibt, jedenfalls kann man der W. nicht einmal mit einem Diamanten einen Kratzer zufügen, so dass Mohs-Härte 10 überschritten ist), und also auch eine Rechtfertigung aufweisen, täglich drei Bier zu trinken (und einen Wodka).

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