Zeitschrift für Sprungkraft und Leuchtstoff

Heute bei "Exemplarisch im Ersten": Trash-Literatur

Vor sieben Jahren lief ich mit Schrittgeschwindigkeit an einem Fassadenelement vorbei. Es handelte sich um ein Schaufenster. Es versteht sich von selbst, dass der Abstand zwischen mir und dem Schaufenster nicht der Entfernung Dortmund – Hagen entsprach. Der Leser möge dies zumindest gleich „von selbst“ verstehen, denn ich werde im nächsten Schritt meiner liebevollen (und jetzt schon auf das Äußerste aufregenden) Schilderung eines herzlich heftigen Erlebnisses (in dessen Kenntnis zu kommen der Leser mit großer Spannung herbeifleht) den Inhalt des genannten Warenpräsentationsortes beschreiben, was eben bei einer solchen Entfernung kaum durchzuführen möglich wäre. Es sei denn, man hätte mir davon erzählt. (?)

Das liebe kleine Schaufensterchen gehörte einer Apotheke und zeigte Werbung von Salbe und Tropfen gegen trockene Augen. Eine hochauflösende Nahaufnahme eines geröteten Augenwinkels befand sich auf einer Abbildung eines halben Gesichts – auf der Wange nämlich. Heutzutage geht so etwas, da wird ja alles mit dem Computer gemacht, was ich in diesem Fall sehr hoffte. Oder hatten sie etwa den Augenwinkel aus der nicht gezeigten Gesichtshälfte grauenvoll herausgeschnitten und auf die Backe geklebt? War das der Grund, warum man nur die Hälfte sah? Meine Neugier war geweckt. Aber warum war dann der Ausschnitt des entzündlichen Augenwinkels so sehr viel größer im Vergleich zum übrigen Gesicht? Hatten man hier mit einem Vergrößerungsglas gearbeitet? Was war das eigentlich für ein riesengroßer Kopf? Etwa auch vergrößert? Bei diesen ganzen Fragen vergaß ich fast, dass das ganze auf digitalem Wege … aber dann fiel es mir wieder ein.

Die Gesichtsfläche war sehr aktuell, soll heißen, sehr frisch, also glatt und regelmäßig auf kosmetische Weise betreut und gewartet. Aber diese sich gerötet in Tränensackgegend und Lidhautkante sich zeigenden Reizungen. Bah! Ich musste fast kotzen.

Unverzüglich schoss mir der mitfühlende Gedanke in den Kopf, dass dieser Frau auf der Stelle zu helfen sei (wenn sie noch lebte). Aber mal so richtig! Welch fürchterliche Entstellung dieses makellosen Teints, bei Gott dieses Gesicht bietet doch vor allen Dingen ästhetisch soviel Potential. Welch ärgerlicher Jammer. Ich musste weinen.

Als ich bereits etwa zwei Stunden in das Schaufenster starrend und – ich war gerade noch in der finalen Abschlussphase meiner Trauerarbeit und wollte sie gewissenhaft-ausreichend-sorgfältig beenden, um Spätfolgen auf meine Psyche ausschließen zu können – von Mitarbeitern des Ordnungsamtes geräumt wurde, kochte es in mir auf. Erbost entwurzelte ich kraft meines Gebisses innerhalb von 10 Sekunden etwa zwei Kilogramm Haare aus den Kopfhäuten der Ordnungshüter und rannte in den Geschäftsraum. „Guten Tag, ich habe Kopfschmerzen.“ Ich wirkte außerordentlich beherrscht (aber nicht etwa unterkühlt), wenngleich der anschließende Hustenanfall Verwirrung stiftete. „Geht es wieder, sind Sie sicher, dass es Kopfschmerzen sind.“ Was hatte der Kerl an der Kasse denn, ich hatte mich nur an einer Korkenzieherlocke verschluckt. Nach einem Glas Wasser ging es wieder. „Danke.“ Ich bezahlte und ging.

Die Sache auf dem Polizeirevier verlief später reibungslos, mit den Behörden und Ämtern arbeite ich nach vielen Jahren negativer Erfahrungen einwandfrei zusammen. Ich bezahlte das Bußgeld großspurig in bar – um wenigstens ein bisschen zu provozieren –, beschimpfte vor Verlassen des Grundstücks den Pförtner und dachte nicht an das weitere Prozedere.

Noch in derselben Nacht (etwa ein Uhr) – da mir der schwelende Zorn den Schlaf verbot – suchte ich den Ort des Geschehens auf. Schon bei meiner Ankunft verspürte ich detaillierte Lust, verheerende Vernichtungen an den Fassadenelementen vorzunehmen. Als ich den Nachmittag über das Ganze nochmals durchdacht hatte, machte mich die Erschütterung darüber – ich weiß ehrlich gesagt nicht genau worüber – mehr und mehr rasend. Obwohl ich schon im Bett lag und sogar schon meine Gurkenmaske mit Joghurt trug, verließ ich doch nochmals das Haus. Vor lauter Zorn. Oder vielleicht besser: Ich verließ es vollkommen grundlos.

Ich hatte eine Sprühdose dabei, der Inhalt war schwarzer Lack, und ich wollte das Schaufenster mit Schmierereien versauen. Ich schrieb quer über die Front folgenden Satz: „Die beste Medizin gegen trockene Augen ist immer noch ein Todesfall in der eigenen Familie.“ Ungesehen verschwand ich wieder in der Nacht. Ich hatte einen ausgesprochen erholsamen Schlaf.

Noch am selben Morgen fuhr auf der Autobahn ein Sattelschlepper mit Aluminiumformteilen und erhöhter Geschwindigkeit über einen winzigen giftgrünen Golf. Die Tochter des Apothekers wurde am Donnerstag darauf beerdigt. Meine Unschuld konnte ich mühelos nachweisen.
Aber es tut mir leid, so wie es gelaufen ist.

2 Kommentare:

Ronz hat gesagt…

Ein Klasse-Text! Bin beeindruckt.

(davon wird die Welt nicht besser und das Eis unter den Eisbären beginnt nicht wieder an Masse zuzunehmen, ich weiß, wollte es jedoch gesagt haben, um die Chance nicht nutzlos vergehen zu lassen und weil es sowieso regnet.)

mp hat gesagt…

Sehr vielen Dank. Im Gegensatz zu Regen oder Schmelzwasser fördert das meine Motivation. Ich werde noch heute Abend meine 1.000seitige Arbeit über Friedrich IV. abschließen (ich bin auf Seite 12).

Ich empfehle - sehr außerdem - die Geschichte 'Neues Rot' auf
http://bit.ly/8ut2ee