Zeitschrift für Sprungkraft und Leuchtstoff

Der Abend danach

Heraus aus dem Lautsprecher erreichten Akkordeonspäne den Raum. Und sie stapelten sich hinter seinem Rücken. In einer Anordnung, die an diejenige der einzelnen Buchstaben bei einem Graffiti erinnerte. Klezmer aus Krakau. Er war kurz draußen gewesen, eben, und hatte sich schnell und entsetzt wieder zurückgezogen. Denn wieder einmal, wie bereits seit seiner Geburt, war dort eine Straßenschlacht im Gange, tobte eine Variation über ein uraltes Thema. Diesmal fanden die Kampfhandlungen zwischen den von erhobenen Faustgesten umspülten Schaumkronen Südkölns statt, belanglosen Siebzigerjahrebauten, durch die sie prügelnd mit ihrer gefräßigen Gewalt stolzierten: die Arianer und die Athanasier. Der schon staubige Streit drehte sich darum, ob der Sohn dem Vater wesensähnlich (homoiousios) oder ob er ihm wesensgleich (homoousios) sei. Ein für Selbstverständnis und Weltbild entscheidendes Detail für den digitalen Menschen der heutigen Tage.

Nach der Rückkehr in seine Burg wollte er auf das Konzil warten. Er stellte den Lautsprecher auf den Tisch. Es miaute aus Schalllöchern. Schon die alten Ägypter nannten den Hund auau. Seltsam, denn wie zum Beispiel später die Hebräer notierten die Ägypter ebenfalls keine Vokale. Woher hatte der Kaffeehausliterat das dann wissen können, fragte er sich - bei diesem hatte er nämlich jenes in der Stadtbibliothek am Neumarkt nachgelesen. Die Öffnungszeiten unter der Woche, abwechselnd einmal bis 16 und einmal bis 18 Uhr markierten die entscheidenden Jahreszahlen, was die Rechtsfähigkeit des heranwachsenden Deutschen betraf. Rätselhaft war in diesem Sinne der Samstag: Hier schloss sie schon um 14 Uhr. Aber warum?

Er kannte einige Leute, die ihrem Vater nicht einmal ähnlich sahen. Er selbst zum Beispiel hatte an den beiden Seiten seines Kopfes Ohren, die echt total krass abstanden. Bei seinem Vater hingegen waren die Ohren nicht einmal im Halbprofil zu sehen. Das Konzil kam und kam nicht. Dann konsultierte er das Internet. Er hatte sich geirrt. Es war das Jahr 2010. Es hatte sich um keinen Konflikt zwischen Bibelexegeten gehandelt. Nein, es war etwas, das Karneval hieß. Er nahm sich vor, dazu in näherer Zukunft ein Buch zu lesen. Er erinnerte sich dunkel an einen Spruch Cave Canem. Bald schon wollte er der Sache auf den Grund gehen. Mittlerweile schälte er Kartoffeln. Was ging ihm diese Musik jetzt auf den Zeiger. Auch wenn er nicht vor seinem Rechner saß, gingen fünfzig Prozent der Arbeitszeit dafür drauf, die Musik wieder zu wechseln. Erst wollte er Curtis Mayfield reinmachen. Jetzt ging er doch auf eine der zahllosen Internetseiten, die er kannte, um sich Dubstep von talentierten Dilettanten und Unbekannten anzuhören. Der Begriff Arbeitszeit war oben übrigens sehr geschickt gewählt, denn damit expliziert sich ein ganzer Hektar (wenn auch nicht abgezäunt) seiner Philosophie: Kant hatte sich nämlich getäuscht, wenn er sagte, dass Zeit und Raum sowie Kausalität und so weiter nur Formen des Erkennens wären - in Wirklichkeit handelte es sich bei allem Erkennbaren um Einsetzungen in Raum und Arbeitszeit!

Dubstep war zunächst eine sehr seltsame Musik, mit Akzenten und Entwicklungskurven, die er nicht verstand, mit einer ganz komischen Form der Monotonie sowie einem Abstand zwischen Melodie und Bass, der manchmal sehr grob wirkte. Manchmal schiss er auf die ganze Elektronik. Zuerst aber dachte er, diese Leute seien ganz wunderbare Strukturalisten. Ein strukturalistischer Musiker war für ihn zum Beispiel jemand, der einen sehr pompösen Orchesterwalzer schreibt; aber: Während der Wochen, in denen ihn die Komposition beansprucht, stirbt sein Großvater. Dass er ein Strukturalist ist, äußert sich bei ihm jetzt dadurch, dass er zum Gedenken an seinen Großvater in der Mitte des Stücks einen einzigen unkommentierten Viervierteltakt einfügt. Andere hätten zur traurigen Zwischenmelodie gegriffen. Er nicht, denn ein Lebensgefühl, das sich aus solchen Dingen konstituiert, könnten ja selbst Kinder bewerten. Dachte er zumindest. Da hätte er ja gleich Marienhof schauen können. Der Aufbau beim Dubstep erschien ihm mittlerweile zu schematisch. Bevor das Lied begann, musste eine Minute lang irgendein Intro her. Am besten aus einem frühen und sehr seltenen Funkstück. Den holte man sich einfach auf einem youtube-channel. Das Intro war ein Ritual wie das Fingerschnicken gegen den Filter der Zigarette um auf coole Weise vor dem Rauchen den Tabak zu verdichten. Er hatte die Logik dieser Musik noch nicht verstanden und Logik war zum Beispiel, wenn in einem Wörterbuch ein seltenes Wort mit einem Komet gekennzeichnet ist. Bei einem Wörterbuch dieser Musik würden wohl Wörter aus dem Gebiet Luft- und Raumfahrt mit einem Lautsprecher markiert. Aber warum? Härte war für ihn durchaus eine ästhetische Kategorie. Außerdem schlossen sich Minimalität und Härte für ihn keinesfalls aus. Er konnte mit einigen Stücken mitgehen. Einmal hatte er auch mit "siiiick tune mate!" kommentiert. Ein andermal schlicht mit "fuck the alphabet".

Seine Reflexionen zu Musik waren also alles in allem mehr als minderwertig. Es sei hier noch erwähnt, dass er sich sehr darüber amüsierte, dass auf einer Disk des elektronischen Experimentalquartetts "Institut für Feinmotorik" die Dauer der einzelnen Stücke angegeben war, aber darunter lustig geschrieben stand: "Keine Gesamtspieldauer." Er amüsierte sich auch über die Überschrift eines Artikels in der de:bug über diese Kombo: "Was loopt denn da im Schwarzwald." Nicht schlecht, aber "Kuckuck, kuckuck loopts aus dem Wald." hätte er noch viel mehr gemocht.

Das Wasser kochte und die Kartoffeln schunkelten darin. Die Kartoffel würde ein gutes Symbol für die Zahl zwanzig abgegeben. Weil immer genau zwanzig in einem Sack sind. Schon die alten Ägypter bezeichneten mit dem Bild der Kaulquappe die Zahl 10.000. Weil es immer so viele sind. Egon Friedell schreibt, man hätte den Eindruck, dass die Ägypter die ganze Zeit Erwachsene spielten. Plötzlich erklang ein lauter Knall. Außerdem war der lästige Wackelkontakt des Klinkensteckers hörbar und er wollte ihn beseitigen. Dabei blickte er unwillkürlich aus dem Fenster. Scheiße! Sein Dachgeschoßzimmer war abgehoben, er schwebte hunderte Meter über der Stadt. Unter ihm ein Meer bunter Lichtdingsbumse in der Dunkelheit. Er besann sich. Das mit dem abhebenden Haus war vermutlich eine Art umgekehrte Metapher. Würde einem jemand sagen, dass man wohl mit seiner Dachgeschoßwohnung abgehoben sei, wäre die Deutung leicht, es handelte sich um eine Empfehlung mal ein kaltes Glas Wasser zu trinken zum Beispiel. In diesem Falle war es umgekehrt. Jetzt wollte ihn die Realität vielleicht darauf aufmerksam machen, wie fern s i e denn eigentlich von ihm sei. Eine höchstversöhnliche Geste also, in dem Sinne von "Es ist nicht deine Schuld. Zum Realitätsverlust gehören immer zwei. Diesmal liegt es an mir." Dann schreckte er auf und schon stand die normale Kölner Silhouette vor ihm, die Seitenstraße führte auf gewöhnlicher Höhe zum Barbarossaplatz.

Die Kartoffeln kochten über. Das Wasser schwabbte auf den Herd, dessen vier Platten jetzt vier Lautsprecher waren. Dabei handelte es sich um ein Bild, dass er zugegebenermaßen in irgendeinem Profil bei soundcloud gesehen hatte. Bis die Kartoffeln fertig waren, nahm er sich eine Auswahl der 194 Papierschnipsel vor, auf deren einen Seite der Name eines Landes stand, auf der anderen die Rückseite. Amüsanterweise wollte er sein Gedächtnis trainieren. Wir sagen dazu nur: Na, dann gib mal Gas. Er hatte immer welche dieser Zettel in seinen Jackentasche. Sie wanderten immer zwischen rechter und linker Seitentasche hin und her. Rechts waren diejenigen, die er aktuell lernte. Ganze Spaziergänge durch Köln hatten diesem Zweck gedient. Jetzt schüttete er die Kartoffeln in das Sieb.

War das ein wunderbarer Tag gewesen gestern. Er dachte gern an ihn zurück. Die Zukunft hatte sich geöffnet und jetzt war sie da. Der Franzose in der Nachbarwohnung sang. Die Kaninchen hatten sich nachts vor der Uni auf der Wiese getummelt und die zahlreichen Schlösser - einfache und ehrliche Symbole - auf der Deutzer Brücke waren vermutlich schon immer und unbewegelich dagewesen. Auch eines mit ihrem Namen. Den Metalldraht hatte man im Nachhinein in sie hineingeflochten, bis ein Zaun entstand.

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