Zeitschrift für Sprungkraft und Leuchtstoff

Der Abend danach

Heraus aus dem Lautsprecher erreichten Akkordeonspäne den Raum. Und sie stapelten sich hinter seinem Rücken. In einer Anordnung, die an diejenige der einzelnen Buchstaben bei einem Graffiti erinnerte. Klezmer aus Krakau. Er war kurz draußen gewesen, eben, und hatte sich schnell und entsetzt wieder zurückgezogen. Denn wieder einmal, wie bereits seit seiner Geburt, war dort eine Straßenschlacht im Gange, tobte eine Variation über ein uraltes Thema. Diesmal fanden die Kampfhandlungen zwischen den von erhobenen Faustgesten umspülten Schaumkronen Südkölns statt, belanglosen Siebzigerjahrebauten, durch die sie prügelnd mit ihrer gefräßigen Gewalt stolzierten: die Arianer und die Athanasier. Der schon staubige Streit drehte sich darum, ob der Sohn dem Vater wesensähnlich (homoiousios) oder ob er ihm wesensgleich (homoousios) sei. Ein für Selbstverständnis und Weltbild entscheidendes Detail für den digitalen Menschen der heutigen Tage.

Nach der Rückkehr in seine Burg wollte er auf das Konzil warten. Er stellte den Lautsprecher auf den Tisch. Es miaute aus Schalllöchern. Schon die alten Ägypter nannten den Hund auau. Seltsam, denn wie zum Beispiel später die Hebräer notierten die Ägypter ebenfalls keine Vokale. Woher hatte der Kaffeehausliterat das dann wissen können, fragte er sich - bei diesem hatte er nämlich jenes in der Stadtbibliothek am Neumarkt nachgelesen. Die Öffnungszeiten unter der Woche, abwechselnd einmal bis 16 und einmal bis 18 Uhr markierten die entscheidenden Jahreszahlen, was die Rechtsfähigkeit des heranwachsenden Deutschen betraf. Rätselhaft war in diesem Sinne der Samstag: Hier schloss sie schon um 14 Uhr. Aber warum?

Er kannte einige Leute, die ihrem Vater nicht einmal ähnlich sahen. Er selbst zum Beispiel hatte an den beiden Seiten seines Kopfes Ohren, die echt total krass abstanden. Bei seinem Vater hingegen waren die Ohren nicht einmal im Halbprofil zu sehen. Das Konzil kam und kam nicht. Dann konsultierte er das Internet. Er hatte sich geirrt. Es war das Jahr 2010. Es hatte sich um keinen Konflikt zwischen Bibelexegeten gehandelt. Nein, es war etwas, das Karneval hieß. Er nahm sich vor, dazu in näherer Zukunft ein Buch zu lesen. Er erinnerte sich dunkel an einen Spruch Cave Canem. Bald schon wollte er der Sache auf den Grund gehen. Mittlerweile schälte er Kartoffeln. Was ging ihm diese Musik jetzt auf den Zeiger. Auch wenn er nicht vor seinem Rechner saß, gingen fünfzig Prozent der Arbeitszeit dafür drauf, die Musik wieder zu wechseln. Erst wollte er Curtis Mayfield reinmachen. Jetzt ging er doch auf eine der zahllosen Internetseiten, die er kannte, um sich Dubstep von talentierten Dilettanten und Unbekannten anzuhören. Der Begriff Arbeitszeit war oben übrigens sehr geschickt gewählt, denn damit expliziert sich ein ganzer Hektar (wenn auch nicht abgezäunt) seiner Philosophie: Kant hatte sich nämlich getäuscht, wenn er sagte, dass Zeit und Raum sowie Kausalität und so weiter nur Formen des Erkennens wären - in Wirklichkeit handelte es sich bei allem Erkennbaren um Einsetzungen in Raum und Arbeitszeit!

Dubstep war zunächst eine sehr seltsame Musik, mit Akzenten und Entwicklungskurven, die er nicht verstand, mit einer ganz komischen Form der Monotonie sowie einem Abstand zwischen Melodie und Bass, der manchmal sehr grob wirkte. Manchmal schiss er auf die ganze Elektronik. Zuerst aber dachte er, diese Leute seien ganz wunderbare Strukturalisten. Ein strukturalistischer Musiker war für ihn zum Beispiel jemand, der einen sehr pompösen Orchesterwalzer schreibt; aber: Während der Wochen, in denen ihn die Komposition beansprucht, stirbt sein Großvater. Dass er ein Strukturalist ist, äußert sich bei ihm jetzt dadurch, dass er zum Gedenken an seinen Großvater in der Mitte des Stücks einen einzigen unkommentierten Viervierteltakt einfügt. Andere hätten zur traurigen Zwischenmelodie gegriffen. Er nicht, denn ein Lebensgefühl, das sich aus solchen Dingen konstituiert, könnten ja selbst Kinder bewerten. Dachte er zumindest. Da hätte er ja gleich Marienhof schauen können. Der Aufbau beim Dubstep erschien ihm mittlerweile zu schematisch. Bevor das Lied begann, musste eine Minute lang irgendein Intro her. Am besten aus einem frühen und sehr seltenen Funkstück. Den holte man sich einfach auf einem youtube-channel. Das Intro war ein Ritual wie das Fingerschnicken gegen den Filter der Zigarette um auf coole Weise vor dem Rauchen den Tabak zu verdichten. Er hatte die Logik dieser Musik noch nicht verstanden und Logik war zum Beispiel, wenn in einem Wörterbuch ein seltenes Wort mit einem Komet gekennzeichnet ist. Bei einem Wörterbuch dieser Musik würden wohl Wörter aus dem Gebiet Luft- und Raumfahrt mit einem Lautsprecher markiert. Aber warum? Härte war für ihn durchaus eine ästhetische Kategorie. Außerdem schlossen sich Minimalität und Härte für ihn keinesfalls aus. Er konnte mit einigen Stücken mitgehen. Einmal hatte er auch mit "siiiick tune mate!" kommentiert. Ein andermal schlicht mit "fuck the alphabet".

Seine Reflexionen zu Musik waren also alles in allem mehr als minderwertig. Es sei hier noch erwähnt, dass er sich sehr darüber amüsierte, dass auf einer Disk des elektronischen Experimentalquartetts "Institut für Feinmotorik" die Dauer der einzelnen Stücke angegeben war, aber darunter lustig geschrieben stand: "Keine Gesamtspieldauer." Er amüsierte sich auch über die Überschrift eines Artikels in der de:bug über diese Kombo: "Was loopt denn da im Schwarzwald." Nicht schlecht, aber "Kuckuck, kuckuck loopts aus dem Wald." hätte er noch viel mehr gemocht.

Das Wasser kochte und die Kartoffeln schunkelten darin. Die Kartoffel würde ein gutes Symbol für die Zahl zwanzig abgegeben. Weil immer genau zwanzig in einem Sack sind. Schon die alten Ägypter bezeichneten mit dem Bild der Kaulquappe die Zahl 10.000. Weil es immer so viele sind. Egon Friedell schreibt, man hätte den Eindruck, dass die Ägypter die ganze Zeit Erwachsene spielten. Plötzlich erklang ein lauter Knall. Außerdem war der lästige Wackelkontakt des Klinkensteckers hörbar und er wollte ihn beseitigen. Dabei blickte er unwillkürlich aus dem Fenster. Scheiße! Sein Dachgeschoßzimmer war abgehoben, er schwebte hunderte Meter über der Stadt. Unter ihm ein Meer bunter Lichtdingsbumse in der Dunkelheit. Er besann sich. Das mit dem abhebenden Haus war vermutlich eine Art umgekehrte Metapher. Würde einem jemand sagen, dass man wohl mit seiner Dachgeschoßwohnung abgehoben sei, wäre die Deutung leicht, es handelte sich um eine Empfehlung mal ein kaltes Glas Wasser zu trinken zum Beispiel. In diesem Falle war es umgekehrt. Jetzt wollte ihn die Realität vielleicht darauf aufmerksam machen, wie fern s i e denn eigentlich von ihm sei. Eine höchstversöhnliche Geste also, in dem Sinne von "Es ist nicht deine Schuld. Zum Realitätsverlust gehören immer zwei. Diesmal liegt es an mir." Dann schreckte er auf und schon stand die normale Kölner Silhouette vor ihm, die Seitenstraße führte auf gewöhnlicher Höhe zum Barbarossaplatz.

Die Kartoffeln kochten über. Das Wasser schwabbte auf den Herd, dessen vier Platten jetzt vier Lautsprecher waren. Dabei handelte es sich um ein Bild, dass er zugegebenermaßen in irgendeinem Profil bei soundcloud gesehen hatte. Bis die Kartoffeln fertig waren, nahm er sich eine Auswahl der 194 Papierschnipsel vor, auf deren einen Seite der Name eines Landes stand, auf der anderen die Rückseite. Amüsanterweise wollte er sein Gedächtnis trainieren. Wir sagen dazu nur: Na, dann gib mal Gas. Er hatte immer welche dieser Zettel in seinen Jackentasche. Sie wanderten immer zwischen rechter und linker Seitentasche hin und her. Rechts waren diejenigen, die er aktuell lernte. Ganze Spaziergänge durch Köln hatten diesem Zweck gedient. Jetzt schüttete er die Kartoffeln in das Sieb.

War das ein wunderbarer Tag gewesen gestern. Er dachte gern an ihn zurück. Die Zukunft hatte sich geöffnet und jetzt war sie da. Der Franzose in der Nachbarwohnung sang. Die Kaninchen hatten sich nachts vor der Uni auf der Wiese getummelt und die zahlreichen Schlösser - einfache und ehrliche Symbole - auf der Deutzer Brücke waren vermutlich schon immer und unbewegelich dagewesen. Auch eines mit ihrem Namen. Den Metalldraht hatte man im Nachhinein in sie hineingeflochten, bis ein Zaun entstand.

Sprache anhand eines Gartens

Eingerahmt von Häusern, wie eine blühende Hochalm von schneebedeckten Bergen in einer Folie des göttlichsten Blau, bot sich dieser innere Hof da, diese lebendige Herzkammer zwischen den Betonscheidewänden des städtischen Krimskrams des abermals und immer Gleichen. Diese vor Glück atmende Fläche zog sich ungewöhnlich weit in die Länge und nicht so sehr in die Breite, sie hatte das Format eines länglichen Stoffstreifens, den man sich, getränkt mit arktisch kalter Kräutertinktur, zur Erfrischung über Stirn und Schläfen legt, um sich zu vitalisieren. Vom sommerlichen Nebel der Lust eingehüllt befand sich von hellem Vogelzwitschern erfüllend durchdrungen in der Mitte dieses idyllischen Refugiums, das heißt mit nur noch einen schmalen Asphaltstreifen Abstand zu den Häusern, eine wunderbare Gartenfläche in der Form eines langen Ovals, seitlich zudem durch zwei Kreisflächen ergänzt und umgeben von privaten Kleingärten von Grundstücksgrößen im niederen zweistelligen Quadratmeterbereich. Die Differenzen zu den jeweiligen Nutzflächen gaben sich nicht viel.

Um diese Fläche herum führte also eine Straße an den Wänden des rechteckigen Hofes entlang, und zwar spulenförmig mehrfach, jeweils mit einer Breite von etwa einem Meter, so dass sich die Gesamtbreite der Straße auf etwa drei Meter belief. Hier fanden die Dinge des Alltags und der Notwendigkeit Platz, Abstellplätze und Container - die für sich schon ein Farbspektrum formten -, kleinere Schuppen für Gerätschaften und weitere Möbel. Defekte Holzstühle mit Grünspan und gebrochenen, patinierten Leisten, schmutzige Gummibälle, denen es an Luft fehlte übrigens auch.

Wenn vieles auf das Spielen von Kindern hinwies, dann doch am meisten sie selbst, die allen Orts einander hinterherjagten oder sich sonst die Zeit vertrieben im Grün unter Bäumen oder sonstwo, wo auch immer ihre innige Freude sie anstachelte umherzutollen. Auf den Balkonen saßen und standen Menschen, die zur Ruhe gefunden hatten hinter auftrumpfend farbigen Pelargonien und Petunien, man las, gab sich geliebten Beschäftigungen hin oder trank etwas. Die Katzen tänzelten schnippisch und schmusend über die Natursteinbalustraden und gaben sich der arttypischen Faulheit hin, die man ihnen lächelnd gönnte.

Um die einer Wolke ähnelnden Gartenanlagen, die jedermann zur Verfügung standen, waren also die privaten kleinen Schrebergärten angeordnet, so dass das Rechteck bis zur Straße hin ökonomisch intelligent ausgenutzt wurde. In Architektur und Erscheinung hoben sich die vielen einzelnen Gärten stark voneinander ab. In dem teilweise nur äußerst knapp zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten realisierte man nichtsdestotrotz bisweilen schiere Unglaublichkeiten. Man fand originalgetreue Nachempfindungen säulengetragener Tempelgebilde oder terrassierte Anlagen nach dem Vorbild historischer Gärten ebenso wie schlichte Rüben- und Kohlbeete an deren Rändern man Gießkannen und Gartenharken vergessen hatte. Neben der Züchtung von Zierpflanzen wie Orchideengewächsen oder der Pflanzenveredelung widmete man sich gleichermaßen dem Treiben auf Rasenflächen, die man durch Eintragen entsprechender Markierungen zu Sportfeldern erhoben hatte, auf denen verstreut Plastikenten, Gummikeulen, Schaukelpferde oder Spielzeugschusswaffen daherlagen. Unter einem Tisch klebte ein Kaugummi.

Eine sechskantige Mitte wurde von der edlen wolkenförmigen Gartenformation gefasst wie ein hochwertiger Stein in den Goldfingern einer teuren Schmuckbrosche aus wertvollem Steinzeug und lag unter sprühender Blütenpracht und bizarren Blattformen überwältigender Schönheit, überragt und in kühle Schattenhaftigkeit getaucht von fremdländischen Bäumen und exotischen Pappeln. Diese trugen unterdessen ausnehmend köstliche Früchte. Ein kluges System von künstlich angelegten Wasserläufen sorgte für das Lebenselixier von Menschen, Pflanzen und Tier. Das Gelände wurde verziert durch kunstfertige Statuen und Statuetten, prunkvoll und bescheiden zugleich, zwischen Bögen und mosaikbesetzten Arkaden fanden sich die tollkühnsten der erdenklichen Springbrunnen und Wasserspielanlagen. Auf den Dächern vieler kleiner Gebäude, ragten aus Gips modellierte Palmen auf, und auf dem Dach des Hauptgebäudes thronte aus chinesischem Kunstporzellan gebildet ein im Sprung gefangenes Einhorn mit meterlangem Stachel, das den erstaunten Betrachter mit seiner witzig expressionistischen Spielart und Gestaltung verblüffte. Ein Bein der respektablen Skulptur zum Beispiel ragte, einen schnellen Polygonzug formend, sich mehrfach zergliedernd in Schlaufen durch die Luft, wo es kantig spiralförmige Linien aufspürend den Raum noch harscher dominierte als der eigentliche und fast lebendige Körper. Schließlich fiel die Figuration dieses Beines geschlagen nach unten gen Boden, so dass die Skulptur mit dem Fuß, der in einem etwa fünfzig Meter tiefen Graben in der Wiese eingelassen war, etwas entfernt von dem ausgehenden Gebäude in galoppierend-schizophrener Tragik abschloss.

Gebändigte Schlingpflanzen und wachsende Girlanden dehnten sich verdreht, kleine aufragende verzwirbelte Obelisken berührend, von Stamm zu Stamm, und zu Leibern zugeschnittene Rosensträucher sowie Buchsbaumheckenlabyrinthe setzten sich durch das Ganze hindurch, das als solches, wenn man sich in ihm befand, den Blick nur noch auf die Oberkanten der umliegenden Häuser gestattete. Der lästige Großstadtlärm wurde von plätscherndem Wasser, Hundebellen und Geräusch von Getier und Mensch abgewehrt.

Seitlich davon befanden sich zwei mittelgroße kreisförmige Areale, die den Eindruck erweckten, hier sei nie etwas anderes als Zeit gewesen.
Urtropisch und als eine Frühform von Natur versank auf seine Weise ein jedes der beiden kleineren, seitlichen Gebiete in stickiger Feuchte und Hitze krummbucklig in seiner verknäulten Silhouette. Die nass glänzenden Auswüchse verschwammen im filzigen Dunst schwirrender Insekten und lodernder Pollen und Sporen. Es ging ein grober, betörender Duft heraus von diesem windlosen Nebel verfallener grüner Grotte. Im Inneren regneten Blütentupfer aus allen Gegenden der Farbe von überall her in das Bild hinein und säumten die Umrisse von scheinbar aus ihrem eigenen Fleisch heraus leuchtenden Fruchtkörpern, die sich darüber hinwegstreckten, wie bereits abgeworfene, angefressene Früchte stechend-süsslich auf dem morastigen Boden faulten. Ein Volk aus schimmernden Raupen und fetten Schnecken bewohnte diesen gärenden Brei. Libellen und Flügelwesen stoben durch das harzige Gestrüpp hin und wieder nach außen, von wo aus diese Anhäufung verwilderter Verwahrlosung wie das letzte unangetastete Stück Schöpfung fantastisch und smaragden wirkte. Kaum zugänglich, beziehungsweise nur unter geduldiger Auseinandersetzung mit lästigen Kletten und zurückpeitschenden Zweigen, die so die spiegelnden Tropfen dicken Pflanzensaftes verschleuderten, beherbergte dieser Flecken doch auch Aushöhlungen und zu Plätzen zertretene Pfade. Sie wurden von Meditierenden oder Traurigen zur Andacht genutzt, wenngleich es dort dem Odem versumpfter Tümpel standzuhalten galt, die blasenwerfend und schlackig unter verfallenen Gehölz von kriechendem Gewürm bekrabbelt wurden. Auf den wenigen offenen Lichtungen hatte man Schwitzhütten aus Lehm errichtet. Im Winter fror der Schleim.

Und wie sich dort eine Unzahl breitmauliger Pilze über die Rinden und Stämme zog, so waren auch die Fassaden der umliegenden Häuser zahlreich mit Überhängen, Einbuchtungen und Ausschüben bestückt, so dass mittags ein zersplitterter Schattenwurf auf den Boden kam, der sich in der Zeitspanne bis zum Sonnenuntergang über die dicken Blumenkübel und Regenfässer beugte und sich an den Fenstersimsen und den daran abgestellten Gartengeräten, Schalen und Eimern entlang hangelte. Die Reihe dieser Sachen wurde bald abgelöst von den Welldächern einiger Blechverschläge, auf denen Plastikflaschen und anderes Verbrauchsgut in abgestandenen Pfützen einen auf Spiegelbild machten.

Gegenüber des bereits von Schmetterling und Vogel in Anspruch genommenen Durchgangs war die alleinige Hofzufahrt zu finden. Wobei, dem gewöhnlichem Gang der Dinge zufolge, feierabends mit dem Abfahren der zur Gartenpflege Angestellten die rotweiße Pförtnerstange hinauf und wieder herunter gelassen wurde und schließlich scheppernd in den Bügel sprang. Die Fahrzeuge verließen dann, hier, am östlichen Ende der heruntergekommen Verschläge dieses lausige Höfchen, während am westlichen Ende noch ein schmaler Weg nach draußen führte.
Es war ein wirklich sehr schmaler Weg. Sollten sich etwa zwei Radfahrer auf dieser Strecke begegnen, wäre es unmöglich aneinander vorbeizufahren. Begegneten sich zwei Fußgänger so war die Sache ganz einfach. Die eine Person ging einfach in die Hocke und neigte den Kopf nach vorne, so dass die andere über den Rücken laufen konnte. Wie ließ sich das aber bei Radfahrern erledigen? Entweder, so dachte man sich, verbat man es Radfahrern, hier entlang zu fahren oder man würde sich einen Kniff, einen ganz ausgefuchsten Kniff ausdenken müssen. Und das machte man. Der Neuling wunderte sich, wenn er zum ersten Mal den Weg benutzte, warum denn alle fünfzig Meter an der Seite des Weges, entweder an einer Wand oder an einem zu diesem Zweck postierten Pflock eine kleine Rampe aus vernagelten Holzplatten hing. Richtig! Auf diese Weise konnte ein Fahrradfahrer, der dann beträchtlich Anlauf nahm über den anderen herüber springen. Und das Beste: In der jetzt schon langjährigen Geschichte dieser Idee kam es noch zu keinem einzigen Unfall.

Der Weg, der sehr schmal war, nahm einen recht komplizierten Lauf. Es war fast so als hätte ein Kindergartenkind Farbkreidekreise auf einen Block gemalt, er war auch genauso bunt und tatsächlich: Dieser Weg war Gekritzel. Erst hob er sich auf die halbe Höhe der ihn einschließenden Bauten und führte dann außen an den Häusern des Hofes entlang. Dann ging es los. Quer und kreuz führte er durch die Stadt, ab und auf, Unterführung da, Brücke hier, Spirale nach oben woanders, Pirouette in die Schräglage dort. Er änderte Höhe und Breite ständig, wobei er natürlich niemals breiter wurde als einen halben Meter, und manchmal lag er so tief zwischen zwei Mauern, dass man ihn bei Regenwetter für einen Brunnen halten konnte. Manchmal mussten also Fenster in den Wänden, und manchmal auch in der Decke Licht spenden. Letzteres, wenn er gerade unterirdisch drauf war. Hatte der Planer bei einem belanglosen Telefongespräch gezeichnet und sein Assistent das Gekrakel später für den ersten Entwurf gehalten, worauf der Planer vielleicht verstarb, ohne die Chance, den Unsinn zu revidieren? Nein, denn dieser Weg musste natürlich gewachsen sein, ein sehr schmaler Tumor, aber ein schöner, und an einer Stelle war er mannshoch mit Treibsand gefüllt, so dass man entweder die Rampe benutzte oder mit Beinkraft sprang, um das Hindernis zu überqueren. Schließlich mündete er auf einen schlichten Parkplatz, wo unter anderem die Bewohner des Innenhofs ihre Fahrzeuge abstellten. Jemand hatte die weißen Linien der Parkplatzeingrenzungen mit blauen Fingerabdrücken tapeziert.

Unmittelbar außerhalb des Innenhofes und zwar gegenüber Hausnummer acht stand auf dem Weg, an einem Geländer angelehnt, die Frau mit viel Lippenstift. Sie war auf dem Weg zu ihrem Auto und hielt kurz inne. Sie sah zur Haustür und über das Kopfsteinpflaster bis dahin, dann blickte sie erneut zum Haus. Jetzt brach sie eine Zigarette durch und ließ sie fallen.


Bei diesem Text handelt es sich um Kapitel 3 des Textes "Stadt und Frosch". Ein Text, in dem ich unter anderem versuchte Handlungen mithilfe von Beschreibungen zu simulieren und zu diesem Zweck mit sprachlicher Verspieltheit und Manierismen schrecklich übertreibe. So dass jetzt schließlich vielen Leuten sicherlich viel Geduld abfordernde 50 Seiten (endlich) existieren, in denen selbstverständlich aber dennoch der absurdeste Kram "passiert". Im gleichen Text erhalten wir zum Beispiel Einblicke in die sportliche Karriere eines Unternehmers, dessen Erfindung eines speziellen Belages für Tischtennisschläger zur Gründung der Firma führte - und zum Abschied vom Profisport. Ein Thema, dass man ja in vorangegangener Gartenschilderung geradezu voraus"weiß". Wo und wann es den "Volltext" gibt, weiß ich allerdings noch nicht.

Septum Non Datur

Annihilatorischer Tremor im Duktus des Chansons. Das Ich als unangenehmes Geräusch. Das Wir als orchestraler Wohlklang. Heute in der Mittagssonne werden Wissenschaftler mit Röntgenstrahlen Streichinstrumente stimmen. Wir stellen sie hierzu in einen kalten Raum und beobachten durch das Fenster, wie sich die Schnecken drehen, ohne dass jemand berührte. Die nonmusikalische Geisteswissenschaft. Der erkältete Arzt. Wir verstehen Suche nicht als einen Prozess, sondern als ein Ding, als eine Art geographische Gegebenheit. Ich habe mich in einen Vulkanausbruch verliebt.

Die Animation der Welt durch die Animation des Menschen. Die Kolorierung von Zeug. Die Koordination sämtlicher menschlicher Augenbewegungen durch einen Großrechner in einem Methansee des Marsmondes Erde. Man bewegt die Bestandteile des eigenen Körpers mit Hilfe von Telekinese, von Teleportation von Befehlen in der Kurzdistanz. Man befindet sich in einem wohlfeil definierten Raum. Die Gedanken verwelken, sie wollten niemals Blumen sein. Wir brauchen keine Münder mehr. Unsere Zungen sind zu den Regenwürmern gegangen.

Wir müssen auf die Toilette. Wir müssen so vieles. Hier entlang. Der Begriff der Person ist innerhalb einer Schizophrenifikation der Modellzeit aufzulösen. Die Prismatisierung von Form und Inhalt im Nebel einer gesellschaftlichen Relevanz. Aus der Vogelperspektive des negativ definierten Egozentrismus verkümmern die Einzelteile unserer Phantasie in den Linoleumfackeln der Sprache. Eine Sprache kann mit ihrer eigenen Sprache nicht verschwiegen werden. Ein uneheliches Kind schon. In Deckung! Wir sind für die musikalische Verknüpfung von Aussagen. Wir sprechen uns dafür aus.

Wir brauchen ein semantisches Alternativkonstrukt zum Konzept Sinn. Wir sind für die Konstruktion einer Hierarchie verschiedener Widerspruchsklassen, Widerspruchsstrukturen, um die Fehlbildungen der nicht zweckrationalen Intelligenz vollständig zu ignorieren. Wir enthalten uns. Die Mathematik fliegt. Die argumentative Operation wird von der Artikulation eines Bewusstseinszustandes abgelöst. Oder eines halben mit zwei Würfeln Rohrzucker. Wir dürfen nicht mehr zwischen Einzeldingen unterscheiden. Wir dürfen uns jetzt küssen. Es gibt uns, so wie es das Obst gibt. Gehen Sie in einen Supermarkt und Sie finden chiffriert alle Variablen und Operatoren, die Sie brauchen um eine Formel für die Wahrscheinlichkeit der Existenz des Planeten Erde zu errechnen.

Kunst ist Schnulli. Der Student glaubt dem Professor. Die Auflösung des Ichs in der Tätigkeit hat die Unmöglichkeit zur Unterscheidung von Tätigkeiten mit sich gebracht. Wir feiern die Ganzheit. Das Plus tanzt nicht mehr mit dem Minus. Es weiß seit heute, dass es addiert. Wer einen Namen hat, weiß wie er sich im Selbstgespräch anzureden hat. Wer Selbstgespräche führt, ist bestens informiert. Wir - das sind langjährig erfahrene Berater aus allen erdenklichen Bereichen. Wir zeigen Ihnen den Weg zu mehr Effizienz bei Spieleabenden. Ihr Erfolg ist unser Spiel. Der Alkohol kommunikativer Elektrik isoliert niemanden mehr vor Feierabend. Es sei den wir arbeiten darauf hin.

In unserer erfahrungsfreien Freizeit kommt es unserem Fehlen jeglicher Urteilskraft entgegen, dass es keine Ereignisse gibt. Wir fahren in den Urlaubstagen zu unseren Lieblingskoordinaten. Mit Sonnenschutzfaktor 17 schützt sich das Bewusstsein vor uns. Der Realist empfängt alle Kanäle, er verpasst nichts mehr. Jetzt wo wir den achtundvierzigtausenddreihundertvierundneunzigsten Todestag der Transzendenz feiern, dürfen wir - datenverarbeitende Wesen plus Schicksal - uns nicht mehr davor scheuen, nur noch homogene und schlüssige Gedankeninhalte zu akzeptieren. Der Wille zur Aussage muss gebrochen werden.

Schlechte Laune ist ein Gebet. Herr im Himmel, gib dieser Busfahrt einen Sinn. Hätten wir ein Bewusstsein, so gäbe es außersprachliche Strukturen, und das wollen meine Eltern nicht. Wo sind unsere Regenjacken? Ich bin frei, weil ich mich in meinen Aufgaben wieder erkennen kann. Ich lagere mich in Identifikationen aus, ich werde dadurch so groß wie Europa.

Wir sind in die freie Totalität des Daseins geworfene Gesteins- und Geistmassen und interessieren uns für Eigenschaften. Das ist nicht weniger als unmoralisch. Das ist unheimlich. Wo sind all die Subjekte hin? Die lithiumfrostige Bohrtiefe unserer Unverstandenheit erfriert im Blautotgrau des Stahlbeckens logozentrischer Tristesse. Wo befindet sich die Amygdala, hat sie sich für diesen Ort entschieden?

Aus welcher Substanz ist der Wille? Ist er magnetisch? Wird der Kleine durchkommen? Wir verkleinern, restringieren uns, wir sind auch nur Menschen. Wir injizieren uns Sinn, wir hängen an der Nadel. Religionsunterricht ist Beschaffungskriminalität. Rationalität ist faktisch Religion. Sollten wir uns nicht das Verstehen abgewöhnen. Sollten wir nicht das Abgewöhnen verstehen. Verstehen wir das Abgewöhnen-Sollen. Von Freiheit krieg' ich immer schlechte Laune. In dieser außenlosen Zeit freue ich mich über geistige Schranken. Das chaotische Bewusstsein darf uns im Bedarfsfall den Straßenmusiker machen.

Das Vergessen ist die einzige Möglichkeit, von seinem Leben zu erzählen. Im Wald verbrennt etwas Bedeutung. Handlungen sollten zu mindestens siebzig Prozent ästethisch sein. Die Forschungsgesellschaft bewilligt Gelder für die Auffindung und Zerstörung von Autodidakten. Es gibt keine Beziehung zwischen dem Signifikanten und Signifikaten, es gibt nur die Beziehung zwischen Herrchen und Haustier.

Ereignisse sind Kleinkram. Wir trinken einen auf den endlosen Sternenhimmel über uns und den endlosen moralischen Kosmos in uns. Einfach nur sein, Fliegenpilzwein in mich rein. Es ist gut, dass die idealistische Welt nur eine Teilmenge der realistischen ist, denn dann können wir schon mal für nächste Woche mit Einkaufen planen. Glücklicherweise gibt es Konsequenzen, wir können handeln. Sind wir frei? Frind wir sei? Das blanke Handeln. Das blanke Entsetzen.

Die dritte vollständig überarbeitete Auflage meines Ich. Ich wünschte mir schon als kleines Mädchen inkonsistent und unlogisch zu denken. Gestern sind Analyse und Interpretation gestorben. Ich liebe Dich. Es gibt keine Konzepte. Das klingt gut, wir sind interessiert. Der Mensch ist eventuell noch weniger als nur ein Gehirn. Warst du schon einmal in einer Situation? Da wir nicht nachdenken, mögen wir nicht die Eigenschaften einer Sache, sondern die Sache selbst. Jetzt können wir jemanden, der die Sache auch nur teilweise kritisiert, zu den Depressiven sperren.

Zustand eins zum Zeitpunkt zwei. Die graphische Darstellung einer Illusion: das mechanische Selbstportrait. Wir sollten dem Ungeordneten das Attribut des Pathologischen zuschreiben. Das Pathologische wird morgen keine Nostalgie mehr erzeugen können. Wir unterstützen nicht einmal mehr Konzeptkunst. Wir regeln den Verkehr. Wir bringen geschichtliche Beispiele. Wir dürfen (nicht) nachdenken. Die unabgeschlossene Sache als die einzig mögliche. Werde abstrakt. Werde eine Musik. Wann? Es muss so gewesen sein.

Heute bei "Exemplarisch im Ersten": Trash-Literatur

Vor sieben Jahren lief ich mit Schrittgeschwindigkeit an einem Fassadenelement vorbei. Es handelte sich um ein Schaufenster. Es versteht sich von selbst, dass der Abstand zwischen mir und dem Schaufenster nicht der Entfernung Dortmund – Hagen entsprach. Der Leser möge dies zumindest gleich „von selbst“ verstehen, denn ich werde im nächsten Schritt meiner liebevollen (und jetzt schon auf das Äußerste aufregenden) Schilderung eines herzlich heftigen Erlebnisses (in dessen Kenntnis zu kommen der Leser mit großer Spannung herbeifleht) den Inhalt des genannten Warenpräsentationsortes beschreiben, was eben bei einer solchen Entfernung kaum durchzuführen möglich wäre. Es sei denn, man hätte mir davon erzählt. (?)

Das liebe kleine Schaufensterchen gehörte einer Apotheke und zeigte Werbung von Salbe und Tropfen gegen trockene Augen. Eine hochauflösende Nahaufnahme eines geröteten Augenwinkels befand sich auf einer Abbildung eines halben Gesichts – auf der Wange nämlich. Heutzutage geht so etwas, da wird ja alles mit dem Computer gemacht, was ich in diesem Fall sehr hoffte. Oder hatten sie etwa den Augenwinkel aus der nicht gezeigten Gesichtshälfte grauenvoll herausgeschnitten und auf die Backe geklebt? War das der Grund, warum man nur die Hälfte sah? Meine Neugier war geweckt. Aber warum war dann der Ausschnitt des entzündlichen Augenwinkels so sehr viel größer im Vergleich zum übrigen Gesicht? Hatten man hier mit einem Vergrößerungsglas gearbeitet? Was war das eigentlich für ein riesengroßer Kopf? Etwa auch vergrößert? Bei diesen ganzen Fragen vergaß ich fast, dass das ganze auf digitalem Wege … aber dann fiel es mir wieder ein.

Die Gesichtsfläche war sehr aktuell, soll heißen, sehr frisch, also glatt und regelmäßig auf kosmetische Weise betreut und gewartet. Aber diese sich gerötet in Tränensackgegend und Lidhautkante sich zeigenden Reizungen. Bah! Ich musste fast kotzen.

Unverzüglich schoss mir der mitfühlende Gedanke in den Kopf, dass dieser Frau auf der Stelle zu helfen sei (wenn sie noch lebte). Aber mal so richtig! Welch fürchterliche Entstellung dieses makellosen Teints, bei Gott dieses Gesicht bietet doch vor allen Dingen ästhetisch soviel Potential. Welch ärgerlicher Jammer. Ich musste weinen.

Als ich bereits etwa zwei Stunden in das Schaufenster starrend und – ich war gerade noch in der finalen Abschlussphase meiner Trauerarbeit und wollte sie gewissenhaft-ausreichend-sorgfältig beenden, um Spätfolgen auf meine Psyche ausschließen zu können – von Mitarbeitern des Ordnungsamtes geräumt wurde, kochte es in mir auf. Erbost entwurzelte ich kraft meines Gebisses innerhalb von 10 Sekunden etwa zwei Kilogramm Haare aus den Kopfhäuten der Ordnungshüter und rannte in den Geschäftsraum. „Guten Tag, ich habe Kopfschmerzen.“ Ich wirkte außerordentlich beherrscht (aber nicht etwa unterkühlt), wenngleich der anschließende Hustenanfall Verwirrung stiftete. „Geht es wieder, sind Sie sicher, dass es Kopfschmerzen sind.“ Was hatte der Kerl an der Kasse denn, ich hatte mich nur an einer Korkenzieherlocke verschluckt. Nach einem Glas Wasser ging es wieder. „Danke.“ Ich bezahlte und ging.

Die Sache auf dem Polizeirevier verlief später reibungslos, mit den Behörden und Ämtern arbeite ich nach vielen Jahren negativer Erfahrungen einwandfrei zusammen. Ich bezahlte das Bußgeld großspurig in bar – um wenigstens ein bisschen zu provozieren –, beschimpfte vor Verlassen des Grundstücks den Pförtner und dachte nicht an das weitere Prozedere.

Noch in derselben Nacht (etwa ein Uhr) – da mir der schwelende Zorn den Schlaf verbot – suchte ich den Ort des Geschehens auf. Schon bei meiner Ankunft verspürte ich detaillierte Lust, verheerende Vernichtungen an den Fassadenelementen vorzunehmen. Als ich den Nachmittag über das Ganze nochmals durchdacht hatte, machte mich die Erschütterung darüber – ich weiß ehrlich gesagt nicht genau worüber – mehr und mehr rasend. Obwohl ich schon im Bett lag und sogar schon meine Gurkenmaske mit Joghurt trug, verließ ich doch nochmals das Haus. Vor lauter Zorn. Oder vielleicht besser: Ich verließ es vollkommen grundlos.

Ich hatte eine Sprühdose dabei, der Inhalt war schwarzer Lack, und ich wollte das Schaufenster mit Schmierereien versauen. Ich schrieb quer über die Front folgenden Satz: „Die beste Medizin gegen trockene Augen ist immer noch ein Todesfall in der eigenen Familie.“ Ungesehen verschwand ich wieder in der Nacht. Ich hatte einen ausgesprochen erholsamen Schlaf.

Noch am selben Morgen fuhr auf der Autobahn ein Sattelschlepper mit Aluminiumformteilen und erhöhter Geschwindigkeit über einen winzigen giftgrünen Golf. Die Tochter des Apothekers wurde am Donnerstag darauf beerdigt. Meine Unschuld konnte ich mühelos nachweisen.
Aber es tut mir leid, so wie es gelaufen ist.

Ein kleiner Einschub

In diesem kleinen Einschub möchte ich auf meine Internetseite hinweisen: Meine Internetseite.
Sie ist bereits anderthalb Jahre alt, aber fast niemandem bekannt. Aus nicht ganz klaren (psychologischen) Gründen habe ich sie geheim gehalten. Man sagt, ich habe es nicht so sehr mit Selbstbewusstsein. Das Verhältnis des Menschen zu seinen eigenen Produkten ist sowieso u n g l a u b l i c h interessant. Es ist halt schwierig. Mein Kinderarzt sagt, dass manches auf der Seite, etwa die Bilder oder die Klavierstücke, nicht mehr dem Stand meiner Entwicklung entsprächen (und etwa der Zeit entstammen, wo ich noch pure (Funktions-)Lust darüber empfand, mit den Händen nach Gegenständen greifen zu können). Hingegen der Leiter der Palliativstation, in der ich in einem Einzelzimmer im Keller eines 1.000 Meter hohen Fachwerkhauses (mit Reetdach) auf den Tod (ich nehme seine nahe Ankunft mit Humor) warte, lobt beispielsweise die Abstrakte Kurzprosa. Sätze wie "Die Durstige liegt kniend in einer mit Kapseln gefüllten Strumpfhose unter einem Baggerführerschein und kocht" – bei denen man mal die Twitter-Tauglichkeit prüfen sollte, und die ich mir hier ja verkneifen musste, um den Massen zu gefallen – entzücken mich nach wie vor. Kein Wunder, denn ist es genau der Style, mit dem ich, in meiner vorletzten Schaffensperiode, viele Hefte handschriftlich füllte und lose Papiere vollschrieb, die ich dann mit Schnürsenkeln durch die mit Locher gestanzten Löcher verschnürte. Künstlerromantik ganz im Geiste der Filme der Gruppe Arnold Hau, die es mir wohl erlaubte, mit einem ihrer Filmtitel auch diese meine Schaffensphase zu überschreiben: "Der Bayrische Wald durch die Augen eines Arschfickers gesehen." Das ist natürlich nur Spass, denn so etwas würde ich mir nicht gefallen lassen. Ich erwähne es aber, weil ich mir die Filmsammlung der Gruppe (um Robert Gernhardt übrigens) zu Weihnachten wünsche (hoffentlich liest das eine relevante Person). Es gibt sie zum Beispiel bei einem großen Anbieter, den ich jetzt mal, ich hoffe, man versteht, Nil nenne. Nil, jawohl. Ein sehr langer: Fluss. Und ich lasse das letzte l – zwecks noch genauerer Angleichung – nicht weg. Hoffentlich ist es nicht so Kunstfilm-Dünsch wie der Kram von Robert Rauschenberg oder so.

Ich füge als Anekdote hinzu, dass aus dieser sehr musikalischen Zeit auch der Titel dieses Blogs stammt. Mit einem Fräulein, mit dem ich auf vielschichtige Weise emotional und zwischenmenschlich auf höchst erfreuliche Weise wechselseitig verflochten war, nahm ich in Leipzig in einer Bar Platz, deren hintere Thekenwand ein hohes Spirituosen-Regal mit Cocktailglas-Galerie bald (die altdeutsche Form von 'bildete'), und zwar, grün-blau ausgeleuchtet. Ich, der verliebte Witzbold, sagte: "Willkommen im Kabinett Kalium". Wir schrieben das Jahr 2005. Soweit der Mythos.

Wie dem auch sei, besuchen Sie die Internetseite, immer hereinspaziert, machen Sie schon, na los, ich werde sie auch bald aktualisieren, denn in meiner Schublade gibt es mittlerweile mindestens fünf Geschichtelein, die genau richtig für diesen Ort sind. Vielleicht stimmt das mit den Geschichten auch nicht und ich arbeite gerade (und zwar genau in dieser Zeile) an Vers 11.243 eines gigantischen Versepos (der Titel: "Mein Leben" – haha gosh what a crapmove), meinem privaten Gilgamesch sozusagen.

Belanglose Bilder mit belanglosem Beta-Carotin

Auf den folgenden Bildern sind keine Menschen zu sehen - ich sage das, weil das ja etwas ist, was durch Betrachten nicht herauszufinden ist. Oder dachten Sie da anders? Aber sicher doch, glauben Sie mir, bei Fotos niemals. Das ist eben so bei der Fotografie. Wenn man nicht explizit darauf hingewiesen wird, dass Menschen abgebildet sind, dann kann man sie nicht erkennen. Und wenn keine abgebildet sind, dann wird man misstrauisch. So ist der Mensch. Fotografie ist eben, und da werden Sie mir rechtgeben, etwas unglaublich Verbales. Das heißt aber viel umfassender, dass man gar nichts erkennen kann, von dem was auf Fotografien abgebildet ist, wenn nicht zuvor mitgeteilt. Ein Umstand, den sich der menschliche Verstand zunutze macht mit dem Ergebnis, dass ein vollständiges Verstehen des Abgebildeten dessen Beschreibung nicht zur Grundlage hat, sondern bereits ist. Zum Vergrößern die Bilder anklicken.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Augen nicht einfach öffnen und wieder schließen (sondern viel mehr als nur das). Stellen Sie sich außerdem vor, es gäbe genau zehn verschiedene Arten von Gegenständen. Und Sie könnten demnach die Augen auf zehn verschiedene Arten öffnen und wieder schließen, jedesmal mit dem Resultat, dass sie eben genau eine der zehn Arten von Gegenständen sehen könnten. Und die anderen nicht.
Ich habe heute Folgendes im Sportteil der Zeitung gelesen. Ein Fussballspieler wurde nach seinem Selbstverständnis befragt, wie es ihm im neuen Club ergehe, etc. Er antwortete:
"Wir sind wie graues Haar: Wir fragen uns nach uns und mit Vierzig sind wir plötzlich da."
Geschlossene Augen kann man im Übrigen genauso wenig schließen, wie man offene Augen öffnen kann. Probieren Sie es zu Hause aber bitte nicht aus.
Schlafende Menschen wachen niemals auf, wenn sie von schlafenden Menschen berührt werden. Werden sie von wachen Menschen berührt, wachen sie immer auf. Berührt ein wacher Mensch, der andererseits von einem schlafenden Menschen berührt wird, einen schlafenden Menschen, dann überträgt sich die Herzfrequenz des ersten schlafenden Menschen auf den des zweiten Schlafenden. Meist mit erheblichen Übertragungsfehlern.
Seien Sie ehrlich. Wieviele Bilder haben sie bereits angeklickt, um Sie zu vergrößern. Nein, nein. Ich meine nicht hier. Sondern draußen auf der Straße, in Ihrem Leben. Wie viele Menschen haben Sie in ihrem Leben bereits angeklickt, um sie zu vergrößern? Wie viele wollten das überhaupt? Auf wie viele Menschen haben Sie schon einen Doppelklick ausgeführt. Wie oft wurden Sie mit der rechten Maustaste berührt?
Der obigen Abbildung ist die Theorie der Selbstwahrnehmung nach Fuch zu entnehmen. Es finden (mitnichten) Deformationen statt, ein Vogel wird zu einem Schwarm, in dem er fliegt. Fuch bewertet in seinem Ansatz aber nicht, er sagt nicht, dass Selbstwahrnehmung deformiere, fehlerhaft sei, immer blinde Flecken habe, zu Tunnelblicken führe. Hier liegt genau das Spannende in seinem Ansatz, denn er sagt, dass wir wahrnehmen, aber wir nicht wissen, ob wir das Wahrgenommene sind, oder das Wahrnehmende. Ist aber egal. Führt auch nicht weiter.
"Ich hätte gerne einen zurückhaltenden, aggressiven Schuh, einen Schuh, der mir steht. Einen Schuh mit Größe, einen schnellen Schnuh, einen enormen Schuh. Einen künstlerischen Schuh, einen begabten Schuh, einen Schuh mit Vollmacht, mit Befugnis, einen Schuh mit Direktiven, Postulaten, Ambitionen, Kompetenzen. Einen entschlossenen Schuh, einen muskulösen Schuh, einen Schuh der Tat, der großen Worte, der Träume, einen für die Zukunft, einen stürmischen, akribischen Schuh. Einen moralischen Schuh. Einen umsichtigen, rücksichtslosen, peinlichen Schuh. Einen ungefährlichen, harmlosen, paradoxen: Schuh! Einen Schuh für mich und meinen Mann. Ein neuer Schuh für unser Dorf. Einen aktuellen, einen solchen, den man gerne anzieht, einen atmungsaktiven, chlorfrei gebleichten, cholesterinbewussten, schadstoffarmen Schuh. Ohne künstliche Zusätze, Aromastoffe, Emulgatoren, Katalysatoren, einen Schuh für Millionen, einen Schuh - Ihr Fernsehpfarrer, einen Schuh am Mittag, einen Wer-wird-Schuh? Einen Schuh - Ihr Sportmagazin im Ersten. Einen Freund und Helfer, einen treuen Gefährten, einen modischen, schicken, zeitgemäßen, beschissenen Schuh. Einen Schuh, der brennt, einen intelligenten Schuh, einen zudringlichen, handgreiflichen Schuh, einen einsturzgefährdeten Schuh, einen Schuh ohne Sollbruchstelle. Einen Schuh mit Korrosionsschutz, einen hitzebeständigen Schuh. Einen Schuh an Zentrale. Einen Schuh ohne Mundschutz, ohne Schulabschluss, ohne Vorurteile. Einen herzlichen, warmen, vertrauensvollen, himbeerfarbenen Schuh. Einen Schuh, der in roter Abendglut in der Dämmerung am Horizont im Ozean verschleißt, einen Schuh der gleißend im Zenit steht, von dem man Sonnenbrand bekommt, einen, der ins Tal schießt, das Geröll zersprengt, tosend und brausend. Einen Schuh, der scheu und aufgescheucht aus dem Unterholz aufschreckt."
"Haben wir nicht."

Rückblick auf die weltweiten Gurken-Exzesse der letzten Tage

Was mit Gurken eigentlich los ist: Wir wissen es jetzt. Die Menschen wissen es jetzt. Wir haben es in Erfahrung gebracht: Die Gurke ist besiegt. Am ersten November ging die Pressemitteilung raus. Als nächstes ist der Kohlkopf dran, nein, der war schon. Dann eben der Kürbis und dann der Bergahorn und dann die Spitzmaus. Die Gurke ist nackt, ihr Genom ist entschlüsselt, lasset uns beten: Das siebte sequenzierte Pflanzenerbgut, 100 japanische Wissenschaftler, 350 Millionen Basenpaare. Es ist vorüber. Muss das langweilig gewesen sein. Die Entschlüsselung, das Aufschreiben. Welches Gemüse ist als nächstes dran?

Basenpaare: Der Mensch hat drei Milliarden (das sind 750 Megabyte Information). Er hat es auch weiter gebracht. Entschieden weiter, denn: Wann wird es der ersten Gurke gelingen, das menschliche Erbgut zu entschlüsseln? Nie. Das ist gewiss, das liegt außerhalb der Möglichkeiten des jetzt in neuen Forschungsarbeiten völlig bloß gestellten Gemüses. Die Gurke ist doof, und jetzt ist sie nackt. Der kleinen Gurke ist kalt, und niemand hat sie gern. Im Ruhrgebiet sagt man: Alle Kartoffeln (=Deutsche) sind Opfer. Kartoffeln aufs Maul – Aber Gurke (=Gemüse) geht auch.

Der Kohlkopf ist auch schon entschlüsselt. Das Erbgut von etwa zwei Dutzend Säugetierarten kennt man schon HEUTE. Man kennt auch den Teichmolch ganz gut. Der kleine Teichmolch. Wisst ihr was den Teichmolch zum Versager macht, zur Hassfigur? Er hat mehr Basenpaare als der Mensch. Etwa zehn Mal so viel. Der Mensch hat weniger Adenosin,Thymin – den Rest hab‘ ich vergessen – und Nukleotide oder so, Mann, Verbindungen eben, Basenpaare halt, als das genannte Amphib. Will der uns eigentlich verarschen der kleine scheiß Teichmolch? Glaubt er etwa, er habe was drauf? Die dumme kleine scheiß Kreatur. Schleimige kleine scheiß Sau! Hahaha! Du tust mir so leid ey, du bist so schizo.

Na, wer will denn so despictirlich reden von de kleine grüne Kamerad? Eigentlich gilt: Je größer das Genom, desto komplexer das Lebewesen. Aber es gibt keinen Grund sich aufzuregen. Vor allen auch primitive Organismen, Amöben, Urfarne, solche Sachen haben eine Genomgröße von bis zu einer Billion Basenpaaren. Manche Sequenzen wiederholen sich hier jedoch so oft, manche sind an der Proteinsynthese in einem solchen Grade nicht beteiligt, dass man sie eigentlich nicht mitzählen sollte, wenn man einen fairen Wettkampf will. Unwichtig also hinsichtlich der Vormachtstellung des Menschen im Universum des Lebens.

Und auch die Gurke hat daran nichts geändert. Aber – eine Frage noch: Was hilft uns das jetzt? Können wir jetzt Gurken züchten, die wir per Fernbedienung zum Staubsaugen abkommandieren können? Oder werden uns in Zukunft Gurken unsere Getränke bringen? Oder gibt es bald Gurken in jeder beliebigen Form? Als Sitzkissen, Gurken mit einer lustspendenden Eichel vorne, Gurken als Zahnspangen? Gurken so klein wie Zäpfchen? So groß, dass wir endlich einen weiteren Erdtrabanten erschaffen können?

Ihr wisst genau wovon ich rede: Den Abend, als ich das mit der Gurke erfahren habe, werde ich so schnell nicht vergessen. Mit ein paar Freunden war ich mit Bier und Knabbereien vor dem Fernseher. Ganz zufällig. Normale Freizeit. Der Film war nicht schlecht spannend. Wir saßen alle mit offenen Mündern da und hätten wir nicht gebannt auf den TV-Apparat gestarrt, hätten wir sehen können, wie der Speichel auf unseren Zungen die Salzstangenstücke zersetzt. (Für den Speichel ist es sicherlich neu gewesen, an der freien Luft zu arbeiten).

Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen. Meine Freundin kam herein und schrie, wobei sie die Arme hochriss: „Das Genom der Gurke ist entschlüsselt!“ Wow! Boah, wow!

Zeitlupe. Begeisterung ist die fünfte Dimension. Wir – Wir schleuderten aus den Sofasitzen. Wir rissen die Mäuler noch weiter auf, fielen uns in die Arme – wie geil ist das denn – und schrien vor Jubel. Nein, wir wüteten vor Jubel. Wir sprangen, schlugen, stießen – unglaublich: Masseneuphorie von zehntausenden Menschen konzentriert auf ein Wohnzimmer. Unsere Muskeln. Unser Zorn. Die Tränen flossen uns aus den Augen, wir jubelten, schrien – und wurden dabei unmerklich aggressiv. Der Ton des Schreiens heiserer und schmaler, wurde immer monotoner, verwandelte sich – unter unserem Entsetzen – und wurde zu einem Knistern, einem Kribbeln, Mikrowelle, Weißes Rauschen, Störgeräusch, Signal, es war als ob unsere Gehirne nur noch Bilddaten empfingen. Mehrere junge Menschen, im Jubel eingefroren. Das Rauschen wurde unerträglich und plötzlich war es ein Fiepen, ununterbrochen. Sinus Orkan Sinus. Dann setzte es aus und wieder ein, und aus und ein unerträglich lautes Besetztzeichen, wir waren starr vor Schreck und nur noch Masse. Was geschah? Dann entwickelte sich Melodie, wir, dann Rhythmus, wir, dann Freude, so klang das Paradies! Das Paradies. Heimat. Und jetzt wurde die Play-Taste der Zeit wieder gedrückt! Wir dancten zu unserer inneren Stimme. Wir dancten vor Glück. Dance! Grotesk.

Ich weiß nur noch: Später: Die Massen auf den Straßen. Die Krawalle, Exzesse, der öffentliche Sex. Aber ihr wisst es ja auch. Ihr habt ja das gleiche erlebt. Ihr habt euch, ich weiß es Freunde, ihr habt auch Gurkeneintopf gemacht. Ihr wollt es vergessen, aber ihr habt euch Gurkeneintopf gemacht. Gurken abgeleckt, zerschlagen, zu Brei, euch damit eingerieben. Darin gewälzt. War das eine Nacht. Unsere wilden Körper. Unsere Bodys. Unser Verstand.

Der nächste Morgen. Die nächsten Tage. Was ist passiert? Was bringt uns das verfluchte Genom der Gurke? Entschuldigt bitte, es handelt sich um das Genom der G-U-R-K-E. Wisst ihr, was ich meine? Was war denn mit uns los auf den Straßen, was haben wir angerichtet? Was hat uns so ekelhaft aufgegeilt und so in Freudewucherungen versetzt? Wieviele Menschen wurden aus Freude, das muss man sich mal vorstellen, aus Freude verletzt? Wieviele Unschuldige sind für den Rest ihres Lebens verstört? Sollten wir uns nicht schämen für die ganze Sauerei? Und keiner redet darüber! Seid ihr denn von allen guten Geistern...

Außerdem: Wir wissen ja gar nicht, wozu die einzelnen Teile der Kette gut sind, welches Protein wo synthetisiert wird, wir haben 350 Millionen Basenpaare, aufgelistet in mindestens monatelanger Arbeit. Und ihre Funktion ist uns unklar. Es hilft uns doch gar nichts! Wir kennen jetzt 350 Millionen Postleitzahlen aber nicht die entsprechenden Orte. Ist das die Orientierung, in deren Genuss uns die Wissenschaft bringt, weshalb sie unsere Religion ist? Für die Gläubigen: Lasset uns beten, dass es so geil weitergeht. We love that century.