Zeitschrift für Sprungkraft und Leuchtstoff

Die Kunstblutlüge

Im folgenden Stück spielen drei Hauptpersonen. Eine, das ist der Vermieter, ihn nenne ich Mr. Nice. Er vermietet zwei Zimmer seiner Wohnung, in der er auch selbst wohnt. Einer der Mitbewohner ist Mr. Happy. Er ist dort vor sechs Wochen eingezogen. Der andere Bewohner, Mr. Lucky, wohnt erst seit kurzem dort. Kurz heißen die dramatis personae: Nice, Happy und Lucky. Ob es die folgende Geschichte so wirklich gibt, ist ungewiss. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind zufällig und nicht gewollt. Das heißt, um den winzigen wahrheitsgemäßen Kern wickelte sich ähnlich einer lagenweise aufgetragenen Abdichtung eines Wohnhausfundaments Lüge um Lüge. Zuspitzung gesellte sich zu Zuspitzung und so entstand das feige und niederträchtige Fantasiegebilde eines wahnsinnigen Pseudologen (=zwanghafter Lügner).

Luckys neue Wohnung ist einfach traumhaft! Schon von außen ist sie mit ihrer aufwändigen Stuckfassade ein echter Augenschmaus. Innen verfügt der vor Jahren restaurierte Altbau über die beliebten 3,30 Meter hohen Decken, über einen tollen dunklen Holzboden und über viel, viel Platz. Die Wohnung ist großzügig ausgestattet, Bad und Küche bieten alle erdenkliche Kleinigkeiten, die aus dem Wohnen nicht nur ein Wohnfühlen, sondern auch ein Wohlfühlen machen. Das Bad könnte aus einem Fünf-Sterne-Hotel ausgeschnitten und in diese Wohnung hinein geklebt worden zu sein. Eine riesige Badewanne, ein Spiegel, der die gesamte Wandbreite ausnutzt, schöne weiße Kacheln, eine Toilette und Handtuchhalter machen den Aufenthalt zum unvergesslichen Erlebnis, zu einer Oase der Entspannung beziehungsweise der Erleichterung.

In der Küche findet sich ein schnuckeliger Mini-Geschirrspüler. Lucky wollte ihn sofort ausprobieren und schreien, als er das niedliche Ding gesehen hatte! Im Gegensatz dazu liegt die Wohnung außerdem trotz der zentralen Lage erstaunlich ruhig! Lucky will gar nicht damit angeben, dass die Wohnung quasi zu jeder Tageszeit dunkel ist, vor allen Dingen sein Zimmer, denn die großen, ansehnlichen Bäume gegenüber der schmalen Straße spenden jede Menge kühlen Schatten. Er soll nicht so bescheiden sein, er weiß doch genau, dass das Schicksal ihn in Liebeserklärungen ertränkt. Warum sind die Auserwählten jederzeit so edel?

Bei diesen ganzen Vorzügen ist es leicht verkraftbar, dass jetzt wo es Winter ist, die Heizung abgeschaltet ist. Das klingt schlimmer als es ist, denn Nice war so nett, einige Euro-Paletten in den Keller zu werfen. Mit der praktischen Handkreissäge lassen sich diese dann in handliche Stücke zerkleinern. Die mit verbogenen Nägeln bestückten Abfallreste sind das perfekte Futter für den Kachelofen, der im luxuriösen Wohnzimmer eingerichtet ist. Bei ihrem niedrigen Heizwert verbrennen die Pressspanteile und Holzfetzen nahezu effizient wie trockenes Stroh! Und damit es beim Sägen nicht so laut ist, setzt man sich einfach die netterweise hinterlegten Ohrenschützer auf. Und bevor man etwa Staub in den Atmungsapparat kriegt, öffnet man einfach die kleine Luke zur Straße, die gerade groß genug ist, um über die kleine Treppe die Mülltonnen hinausschieben zu können. Glücklicherweise stört der Lärm dann die ganze Nachbarschaft! Das wurde wirklich alles sehr klug eingerichtet. Und damit man sich nicht verletzt, ist in kluger Vorrausicht das Sägeblatt so stumpf gehalten, dass es sich allzeit im Holz verkantet. So kann man sich natürlich weder den Vorderfuß abtrennen, noch in die Säge stolpern, sollte das Sägeblatt doch einmal unerwartet durch die Palette durchgehen. Ansonsten tritt man kurz und beherzt zu und zertrennt das Holz auf diese Weise. Späne schnellen einem beim Sägen eigentlich kaum in die Augen. Wenn Happy und Lucky zu zweit arbeiten, kann einer beispielsweise mit dem Besen gegen das Werkstück halten, damit es nicht entgleitet. Das gemeinschaftliche Arbeiten stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl und sorgt für die solide Grundlage einer möglichen Freundschaft. Am Ende der leichten Tätigkeit werden die Holzspäne in die Ecke gefegt, wo sie Feuchtigkeit aufnehmen können. Happy und Lucky gehen nach dem Sägen erst einmal in die Wohnküche, wo Lucky seine Bettwäsche dürftig trocknet. Denn, es ist nicht nur so, dass die Scheiben in seinem Zimmer nachts anlaufen, was Lucky natürlich sehr gern mag, denn er will nicht dass Menschen bei ihm ins Zimmer sehen können. Es ist auch so, dass durch das fehlende Heizen das ganze Zimmer feucht ist. Die Wärme des Kamins dringt nicht in die Zimmer. Auch Happy hat ein großes Prachtexemplar von Schimmelpilz bei sich in der Zimmerecke. Und niemand kann verstehen, warum er ihn letzte Woche noch wegkratzen wollte. Den Schimmelpilz kann er nicht hören, denn er lässt die ganze Zeit heimlich den Fön laufen, damit er die Raumtemperatur angenehm regulieren kann. Hoffentlich merkt das Nice nicht.

Nice bewohnt selbst auch eines der verfügbaren Zimmer. Klugerweise hat er einen eigenen Ofen in seinem Zimmer, so dass ihn die fehlende Heizung nicht weiter stört. Nice ist ein sehr netter Mensch. Im freundlichen Eingangsbereich der Wohnküche steht ein geräumiger Korb, in dem eine schier unglaubliche Zahl an Briefen Platz findet. Die meisten sind nicht geöffnet, vor allen Dingen diejenigen, die vom Gerichtsvollzieher stammen. Nice ist auch sehr klug. Er arbeitet als sehr erfolgreicher Fotograf. Er ist oft wochenlang nicht da, weil er in dieser Zeit ausländische Auftraggeber mit seinen hervorragenden Ergebnissen überzeugt. Per Mitfahrgelegenheit nimmt Nice in seinem leistungsstarken Auto Menschen mit über die Grenze. Diese Leute haben sehr viel Glück, und wenn sie selbst eine Zigarettenstange oder Alkohol dabei haben sollten, so müssen sie auf den Preis nochmals zehn Euro drauflegen. Das ist sehr fair von Nice, denn angenommen er hat vier Mitfahrer kann er jetzt selbst nur acht Stangen mitnehmen. Nice erzählte Happy und Lucky neulich, dass als er einer seiner Verflossenen eine Stange verkaufte, sie gemeint hätte, dass sie den beiden eine gut gedeckte Haftpflicht wünsche, falls sie mit dem Ofen Unfug anstellten. Aber da kann nichts passieren, es ist ja nur das Ofenrohr und der obere Bereich des Ofens, die sehr heiß werden. Und der ganze Papiermüll hinter dem Ofen ist ja weit genug weg. Für Sicherheit ist umsichtig gesorgt.

Das Wohnklima ist toll, wenn Nice da ist. Entweder er unterrichtet die beiden Novizen in Lebenserfahrung oder erzählt die tollsten Dinge. Die Kücheninsel hat er beispielsweise zwecks sexueller Tätigkeit auch schon genutzt. Auch von den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Badewanne hat der Lebemann nur Positives zu berichten. Und dass er vor allen Dingen Happy neidisch macht, wenn er von seiner WG im Nachbarland erzählt, ist klar. Der Vierzigjährige wohnt dort mit drei Mädels Anfang Zwanzig und seiner Freundin und erstere hüpfen morgens in Unterwäsche durch den Flur. „Der Nice weiß zu leben“, sagt Happy und lacht.

Der Happy würde wirklich auch mal wieder gerne ran. Der hat gerade ziemlichen Druck, kein Wunder, er als junger Mann steht ja in vollem Saft. Wie toll das wäre, wenn wir hier Frauen in die Bude holen und dann vor dem Kamin sie mit unserem musikalischen Eros bezirzen könnten. Seine Liebesnot ausgenommen ist der Happy immer gut drauf. „Das geht ab“, trötet und flötet er manchmal in den Raum, und zwar zu hundert Prozent intrinsisch motiviert. Happy pfeift auch den ganzen Tag. Damit trägt er in positiver Weise zu einem lebenswerten Umfeld bei. Wenn er hin und wieder mal uffda uffdada oder ma hat ma Glück, ma hat ma Pech, Mahatma Gandhi singt, ist die Stimmung heiter und ausgelassen. Er ist ein großer Fan des Karneval und wenn Lucky nach Hause kommt, klingt aus seinem Zimmer die Aufzeichnung der genannten Veranstaltung aus einem vergangenen Jahr. Happy ist der Meinung, dass man auf seiner Suche nach dem großen Glück nur den Nippel durch die Lasche ziehen muss, und dass man lachen lernen muss und dass die wirklich genialen Texte so aussehen: Klaus-Hinrich war Bauer, kam niemals zur Ruh, versorgte die Schweine, den Stier und die Oma. Rudi Carell, Lucky, das musst du dir mal vorstellen und das 1978. Einfach genial. Happy hat damit in allen wesentlichen Punkten recht. Happy versteht zu feiern. Am Wochenende hat er fünf Jackie-Cola und drei Kölsch getrunken. Unglaublich, aber wahr: für günstige zwei Euro! „Döb döö döb dödö döb döb döb!“ (Zitat Happy) Möglich durch den Bonusgutschein für die ersten hundert Besucher des Clubs, der an diesem Abend die 99-Cent Party erfolgreich neuauflegte. Und sollte demnächst wieder Coco Jambo aus dem Zimmer tönen, dann lächelt Lucky mit hoher Wahrscheinlichkeit mit.

Die Wohnung liegt in einer Stadt, in der es, vor allen Dingen jetzt im Herbst, sehr viel regnet. Das verleiht ihr aber nur noch eine zusätzlich charmante Note. In der Stadt gibt es sehr viele Hunde. Aber Lucky ist vorsichtig, wenn er durch die Straßen läuft, und so tritt er nirgendswo rein. Wenn er in der Mitte der Straße läuft anstatt den Gehweg zu benutzen ist er immer auf der sicheren Mitte. Wenn Lucky morgens früh aus der Haustür tritt, sorgen die Müllautos mit dem kreisenden orangen Licht für eine effektvolle Begrüßung in der Dunkelheit. Die Stadt in der er wohnt, bietet für jeden Geschmack das Richtige. Auch der an zwischenmenschlichen Feinheiten Interessierte kommt in jeder Hinsicht auf seine Kosten! Als Lucky neulich beispielsweise Richtung Karstadt ging, sich eine Hose zu kaufen, stand plötzlich an einer Telefonzelle ein kleiner Junge, dem zwei dünne Blutrinnen aus der Nase troffen. Er war knapp vor dem Heulen und schluchzte, ob nicht jemand ein Taschentuch hätte. „Seid ihr das gewesen?“, rief Lucky hinüber. Einer der beiden gleichaltrigen Jungs, wir nennen ihn Small, in etwas Entfernung rief, dass es nur Kunstblut sei. Der andere der beiden, Little, war weniger vorlaut und meinte, dass Small es übertrieben hätte und ihm auf die Nase gehauen. Lucky verschenkte seine Taschentücher und lief einfach weiter. Die Hose, die er sich dann kaufte, traute er sich bisher noch nicht mit einem seiner Hemden zu kombinieren.
Wenn Lucky spät abends nach der Arbeit aus dem Hauptbahnhof tritt, erwartet ihn die sogenannte Platte. Hier amüsiert sich die Crème de la Crème, ganz vornehme, geschmackvolle Leute. Sie trinken oft Bier und haben schon Gesichtsverletzungen. Manchmal laufen sie über den Beton und rufen aus dem Alkohol: „Ich hab‘ die Hosen an!“ Da muss Lucky immer ganz furchtbar schmunzeln. Er mag Leute mit einem gesunden Selbstbewusstsein. Er selbst wächst ja schließlich auch gerne an seinen Aufgaben. Er mag Leute, die wissen was sie wollen, wie zum Beispiel Happy, der ihm gestern erzählte: „Das mit dem Federweißer und dem süßen Wein, das habe ich schon immer. Und ich glaube nicht, dass ich später herben oder trockenen Wein trinken werde. Das heißt, ich weiß, dass ich es nicht machen werde. Obwohl es schon so viele Leute gesagt haben. Und das schon bei ganz vielen anderen Dingen. Ich habe einfach meine Meinung zu den Dingen.“

Nice ist ja fast nie da, und so verbringen Lucky und Happy die kalten Abende meist alleine in der Wohnung. Lucky trocknet wahrscheinlich gerade seine Bettwäsche oder presst eine Zitrone aus, denn er ist schrecklich erkältet. Wenn er nachts um drei aufwacht, weil sein Zimmer zu kalt ist, setzt er sich vor den gemütlichen Backofen und stellt ihn bei offener Klappe an. Happy schläft wie ein Stein. Und Nice: um drei Uhr? Möge der Alkohol fließen!